DANCE LAB 2.0
»Identitäten« – Das Spielzeit-Motto 23/24 des Regensburger Theaters. Was passiert, wenn man Tänzer:innen dies als Stichwort gibt und sie unter diesem Motto eine Choreographie schaffen lässt? Die Ergebnisse zeigt das Theater in der Produktion Dance Lab 2.0.
von Greta Kluge
Sechs Stücke, in denen die Tänzer:innen ihre Ideen zum Thema »Identitäten« in den jeweiligen Choreographien auf ganz spezielle Weise mit dem Publikum teilen. Eine Bandbreite von Emotionen und Geschichten werden während einer Dance Lab Vorstellung auf der kleinen Bühne am Haidplatz vertanzt, alle auf ihre individuelle Weise. Eines verbindet die Stücke – das erfährt man allerdings nicht durch die Tänzer:innen, sondern durch das Publikum: Die Zuschauenden werden durch die so ehrlichen, durchdachten und einzigartigen Performances in den Bann gerissen und reflektieren ihre eigenen und andere Identitäten in einer ganz neuen Tiefe.
Abendtänzerin
Eine Tänzerin betritt einen Raum. Sie füllt ihn mit ihrer Anwesenheit komplett aus. Es braucht für die Intensität des Stückes »Abendtänzerin« von Momoe Kawamura nur sie selbst, eine Stehlampe, einen schwarzen Bistrostuhl und einen Apfel. Sie schreitet in einem schwarzen Mantel, schwarzen Schuhen und einer strengen Attitüde auf die Bühne. Ausgelaugt vom Leben beginnt sich ihre Bühnenfigur zu verwandeln. Sie streift ihre Kleidung ab, gleichzeitig mit ihrer Identität, ihren Träumen und Vorstellungen. Mit jeder Bewegung schlüpft sie in eine neue Persönlichkeit ihrer selbst. Der Anker bei alldem ist der Apfel, den sie in verschiedenen Positionen und mit verschiedenen Bewegungen verspeist. Ob spielerisch, elegant, verzweifelt, es ist jede mögliche Facette dabei. Eine Geste, die im Gedächtnis bleibt, ist ihr Klopfen auf ihre eigene Schulter. Sie scheint ihre eigene Rolle zu bestärken und in einem neuen Verständnis ihrer selbst zieht sie sich wieder an und verlässt die Bühne, zurück in ihr Leben. Sie scheint so zu sein wie vorher, aber durch die Beschäftigung mit sich selbst doch neu.
14,5 Stunden
14,5 Stunden hatte Vincent Wodrich, um seine Ideen in eine Choreographie umzusetzen. Und so entstand auch der Titel des Stückes, das sich mit Episoden aus dem Leben beschäftigt und wie man sich später an sie erinnert. Leander Veizi tanzt bzw. spielt einen Menschen, der sich fragt, was falsch gelaufen ist, was überhaupt war und wer er nun ist. »For fucks sake tell me I‘m normal« fleht er, während er seine Anzugjacke an- und auszieht und sich in bewusst getrieben wirkenden, gewollt abgehackten und unvollständigen Bewegungen über die Bühne bewegt. Während man sich noch fragt, warum ein Kühlschrank auf der Bühne steht, zieht der Tänzer ein Bild aus seiner Tasche und hängt es an den Kühlschrank. Eine Erinnerung an eine Phase aus seinem Leben, die sich nun auf der Bühne nochmal abspielt. Aus dem Kühlschrank schlängelt sich Fátima López García. Sie und Leander Veizi tanzen ein unglaublich schönes, von vertrauter Verbundenheit und Melancholie geprägtes Duett. Sie verschränken sich ineinander, ihre Körper scheinen ineinander zu fließen. Es erweckt den Anschein, dass Vincent Wodrich zwei Menschen miteinander atmen, spüren und leben lässt. Nur damit sie sich am Ende wieder trennen und ihre eigenen Wege gehen, wieder ihre eigenen Identitäten und Interpretationen von der Wirklichkeit verfolgen. Die gemeinsame Welt gibt es plötzlich nicht mehr, die Erinnerung daran schon, aber die könnte auch verzerrt sein. Eine Geschichte und deren persönliche Verzerrungen, die Vincent Wodrich mit einer tief berührenden Choreographie dem Publikum erzählt.
Open Position
Win McCains Stück erzählt vom Kampf. Vom Kampf gegen andere und gegen sich selbst.
Die Waffen: Boxhandschuhe, der Boxring: das Regensburger Theater, der Preis für den Gewinner: die offene Stelle in der Kompanie.
»Open Position« heißt das Stück, in dem Win McCain selbst als »Moderator«, zusammen mit Momoe Kamawura und Chih-Yuan Yang als kämpfend den Wettstreit vertanzen. Die drei interagieren auf der Bühne miteinander, gleichzeitig auch viel mit dem Publikum. Open Position ist tatsächlich aufgebaut wie ein Boxkampf, inklusive Moderation, Verliererinterview, Kampfszenen und all den Emotionen der Beteiligten. Identitäten, die Stolz, Angst, Schmerz und Wut spüren. Die Komplexität der Situation und all der Emotionen wird auf eindrucksvolle Weise sichtbar in den Parts, in denen Momoe Kawamura und Chih-Yuan Yang, die sich um die Stelle batteln, miteinander tanzen – oder sollte man lieber kämpfen sagen? Es sind mal kleine, mal große, teils schnelle, teils langsame Bewegungen und Hiebe mit denen sich die beiden versuchen fertig zu machen. Am Ende wirken sie abgekämpft, innerlich und äußerlich. Es gewinnt die Bitterkeit. Die Choreographie und ihre Tänzer:innen schaffen es auf eindrucksvolle und nachhaltige Weise dem Publikum zu zeigen, was es mit der Identität macht, wenn man sich selbst und andere bekämpft. Win McCains Rolle hat hierbei eine vermittelnde, kommentierende Funktion, er bleibt aber auch nicht unberührt von der Sinnlosigkeit des Kampfes. Was er mit der sehr tiefgründigen, emotionalen Choreographie allen Zuschauenden vor Augen führt: Es ist mehr als irrational ist sich und andere zu bekämpfen, denn am Ende sind alle Identitäten kaputt.
Mortal Loucura
Höhen und Tiefen kennen alle Menschen, die sich auf das Leben wirklich einlassen. Pedro Henrique Ferreira bringt diese Thematik in seinem Stück »Mortal Loucura« auf die Bühne. Er tanzt ein Solo auf einer mit herbstlichen Blättern übersäten Bühne. Er steht mittendrin. Mittendrin im Leben, mittendrin im Hin und Her schöner und schwerer Momente. Sein Tanz bleibt relativ statisch, hat aber dadurch keineswegs eine eintönige Wirkung. Wenn Ferreira seinen Körper zu der mit Naturgeräuschen unterlegten Musik schwingen lässt, zeigt er die Emotionen, die entstehen, wenn man sich Höhen und Tiefen stellt. Er, als Künstler, so steht es auch in der Beschreibung des Stückes, durchlebt diese Berg- und Talfahrten immer wieder. Durch seine ausschweifenden Armbewegungen, die Windungen und Biegungen seines Körpers, scheint es als würde er sich dem Schicksal beugen, die Emotionen teils mit, teils ohne Widerstand durch sich fließen zu lassen. Als Zuschauende:r wird man fast in eine Trance versetzt in diese Übergänge von Hoch zu Tief, von Freude zu Verzweiflung. Pedro Henrique Ferreira erinnert auf ganz besondere Weise wie es sich wirklich anfühlt und was es tief im Inneren einer Identität macht, diese Höhen und Tiefen zu durchleben.
Irgendwo zwischen den Farben
Farben, Seifenblasen, Rosen, Rosmarin und Bolero von Maurice Ravel. Fünf Komponenten, die nicht jede:r unbedingt unter einen Hut bringen könnte, geschweige denn auf die Bühnen. Leander Veizi tut das aber auf eine sehr kunstvolle, packende Weise. In »Irgendwo zwischen den Farben« thematisiert Veizi Unterschiedlichkeit und Facettenreichtum verschiedener Persönlichkeiten, die von Fátima López García, Momoe Kawamura, Chih-Yuan Yang und Vincent Wodrich vertanzt werden. Die Choreographie bewegt sich zwischen Energie, Sinnlichkeit, Leichtigkeit und Tiefe und ist in alldem sehr vollkommen. Die Soli malen auf, wie die einzelnen Tänzer:innen auf der Suche sind, sich finden und sich schlussendlich darstellen. Sie vertanzen eine Symphonie der Farben, eine Symphonie der Gefühle und der Individualität, die sich am Ende praktisch orchestral in einer Gruppe zusammenfindet. Gemeinsam steigern sich die Tänzer:innen in Maurice Ravels Bolero hinein, was wunderschön mit dem Tanz zusammen harmoniert und das Publikum voll in das Stück mit hereinzieht. Auf der Kante des Stuhls sitzend schaut man den Tänzer:innen begeistert zu, wie sie sich in sehr kraftvollen Formationen zusammen auf der Bühne bewegen, dabei aber immer in ihrer Individualität bleibend. Was sehr herausfordernd für die Tänzer:innen ist, wirkt für das Publikum umso natürlicher und leichter. Es hat einen Sog und ist viel zu schnell vorbei, man möchte mehr wissen, noch mehr Farben, noch mehr Tanz, noch mehr Facetten, noch mehr von Leander Veizi.
Aber natürlich nicht nur von Leander Veizi, alle Choreographien und Tänzer:innen schaffen es durch ihre Kunst zu begeistern. Eine neue Generation von Choreograph:innen, die alle durch ihre individuelle, besondere Handschrift große Lust und Freude auf zukünftige Produktionen macht. Identitäten, die das Publikum mitreißen, anregen und zum Reflektieren veranlassen. Genau das, was (Tanz-)Theater sein soll und wertvoll macht.
Anmerkung: In der von der Autorin besuchten Vorstellung fiel leider das Stück »The Third Act« wegen Krankheit aus und die Besetzung in den übrigen Stücken wich teilweise aus gleichem Grund ein wenig von den anderen Dance Lab 2.0-Vorstellungen ab.
Beitragsbild: REMEMBRANCE | Vittoria Carpegna & Pedro Henrique Ferreira © Tom Neumeier Leather