Farblos

Farblos

Nur um nachts etwas in der Hand zu haben gegen das drohende Gefühl, dass er eigentlich gar nichts über sie weiß. Dass sie irgendwann einfach weg sein könnte, ganz plötzlich, einfach so.

von Greta Kluge

Jede Nacht aufs Neue malt er Bilder. Von ihr.

„Was denkt sie, wenn sie aufwacht?“ fragte er sich, ihren nackten Rücken auf dem zerknüllten Laken mit Blicken abtastend. Die Haare in alle Richtungen abstehend, verknotet, zerwühlt. „Woran denkt sie, wenn sie einschläft?“ fragte er sich, ohne die geringste Ahnung zu haben, was in ihr vorgeht, wenn er zuhört, wie ihr Atem in den langen Sommernächten ruhiger und gleichmäßiger wird. „Wohin geht sie, wenn sie träumt?“, fragte er sich, den Weg nicht kennend. Aber er stellt es sich vor, weil der Gedanke das alles nicht zu wissen ihn verzweifeln lässt.

Er rennt weg vor der Unwissenheit über ihre Vergangenheit und über ihre Zukunft, indem er zum Künstler wird. Jede Nacht aufs Neue malt er Bilder. Riesig, farbenfroh mit goldenen Rahmen oder trübe, vor Dramatik triefende Leinwände. Er malt, um sich nicht selbst dabei zusehen zu müssen, wie er planlos neben ihr liegt. Neben ihr, die eine Geschichte, ein Leben hat, von dem er nichts weiß.

Er verfolgt sie tagsüber mit seinen Blicken, schaut ihr tief in die Augen, um sie zu ergründen. Nur um nachts etwas in der Hand zu haben gegen das drohende Gefühl, dass er eigentlich gar nichts über sie weiß. Dass sie irgendwann einfach weg sein könnte, ganz plötzlich, einfach so.

Eine ganze Galerie hat er in seinem Kopf, eine Ausstellung nur über sie, nur für ihn bestimmt. Er wandelt durch die Gänge, schaut sich stolz, aber ratlos die Bilder an und ist froh, dass nur er jeden einzelnen Pinselstrich kennt, weil sie dann vollkommen ihm gehört. Weil er sich einbildet, dass er einen Teil von ihr in sich behütet, von dem nur er weiß.

Und auf einmal, da schluchzt sie im Schlaf neben ihm, ein gottloses, heimatloses, verlorenes Schluchzen. Sie flüstert seinen Namen, sie wispert er solle nicht gehen, „lass mich nicht zurück, lass mich nicht allein“.

Und mit einem Schlag, da verstaubt seine Galerie. Der Schmerz in ihrer Stimme, ihre Angst nimmt ihm seine Verzweiflung. Und seine Phantasie. Er braucht die Kunst nicht mehr. Er weiß, dass sie ihn braucht. Ihre Vulnerabilität bringt seine zum Erlöschen. Er kann sich drauf verlassen, dass sie sich ihre Zukunft mit ihm ausmalt. Er brauch seine Pinsel dafür nicht mehr in Farbe zu tauchen. Die Bilder in seinem Kopf verblassen, die Farben werden unattraktiv. Sie wird unattraktiv. Er will sie nicht mehr.

Beitragsbild von Luca Nicoletti auf unsplash

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