Schreibwerkstatt: »Vanishing Art«
Text zum Thema »Spuren« der Printausgabe 36 der Lautschrift. Geschrieben im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Enrico Mayer
Das Klingeln an der Tür ließ Winnie aufmerken. Jemand hatte die Bar betreten. Ein Mann in einem braunen Trenchcoat stand im Eingang. Wobei man das kaum stehen nennen konnte, wie Winnie zugeben musste. Der Mann ließ sich auf einen Barhocker fallen und hätte ihn fast verfehlt.
»Etwas Starkes?«, fragte Winnie und stellte das Glas, das er bis eben geputzt hatte, auf den Tresen.
»Hm, ja. Ja, bitte.«, sagte der Mann, während sein Blick in die Unendlichkeit reichte.
»Sagen Sie«, fuhr er nach einer Weile fort, »Glauben Sie, dass sich ein Mann einfach so in Luft auflösen kann?«
»Nein, mein Freund, nicht dass ich wüsste.«
Der Mann nickte nachdenklich und nahm das Glas vorsichtig mit beiden Händen, als hätte er Angst, es zu zerbrechen.
»Weil, wissen Sie. Ich habe gerade gesehen, wie sich ein Mann in Luft aufgelöst hat. Also, ich habe ihn nicht mehr gesehen, das ist ja das Problem.«
»Tatsächlich?«, Winnie hatte wieder damit begonnen, Gläser zu putzen, doch jetzt hob er interessiert eine Augenbraue, als der Mann zu erzählen begann:
»Ich war auf dem Weg zur Arbeit, als mich dieser Mann ansprach. Junger Mann. Zerschlissener Anzug mit Mantel und Zylinder. Er stand in dieser dunklen Gasse und sagte:
‚Hey da. Wie wäre es mit einem kleinen Zaubertrick?‘
Ich war in Eile, aber er wollte nicht lockerlassen und zog so ein schmieriges Kartendeck heraus. Es war der schlechteste Trick, den ich je gesehen hatte. Ich meine, die Karten fielen ihm aus der Hand, und ich konnte sehen, wie er eine Karte hinter seinem Handrücken versteckte, und dann war es noch nicht einmal meine Karte. Als hätte er das zum ersten Mal versucht. Ich wollte gehen, aber er hielt mich am Arm fest und meinte:
‚Nein, nein bitte, ein letzter Trick, bitte. Ich verspreche dir, sowas hast du noch nicht gesehen.‘
Er zog ein Stück Kreide heraus und begann damit, Symbole auf den Boden zu malen. Dann nahm er ein Messer und schnitt sich damit die Hand auf. Mit dem Blut malte er sich drei Punkte auf die Stirn. Mit seinem eigenen verdammten Blut! Er hob den Mantel über seinen Kopf, murmelte ein paar Worte und dann … als der Mantel zu Boden fiel … war er verschwunden. Einfach so. Spurlos!«
Der Mann hatte die Augen weit aufgerissen und hielt sich an seinem Glas fest, als würde sein Leben davon abhängen.
»Hm«, Winnie betrachtete ein Glas gegen das Licht, »Wie viele von diesen hier hattest du heute schon?«
»Keinen Einzigen. Das schwöre ich. Meinen Sie, ich sollte zur Polizei gehen?«
»Nein, mein Freund, ich meine, du solltest ins Bett gehen. Einen Tag darüber schlafen, habe ich recht?«
Der Mann nickte zustimmend: »Ja … Ja, ich denke, Sie haben recht.«
Er griff in den Mantel nach seiner Geldbörse. Plötzlich hielt er inne. Sein Gesicht, eine Maske des Entsetzens. Statt um die vertraut abgegriffenen Lederkanten hatten sich seine Finger um ein abgerundetes Stück Papier geschlossen. Langsam zog er es aus seiner Tasche und legte es vor sich.
»Die Karte«, brachte er mit brüchiger Stimme hervor, »Das war meine verdammte Karte!«
Winnie betrachtete sie und nickte verständnisvoll: »Die Runde geht aufs Haus, mein Freund.«
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