Schreibwerkstatt: »Kleine Ewigkeiten oder die zurückgelassenen Dinge«
Text zum Thema »Spuren« der Printausgabe 36 der Lautschrift. Geschrieben im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Anonym
Irgendjemand sagte einmal zu Esmeralda, dass die Pappkartons, die Mädchen in ihren Zimmern versteckten, wie Museen wären. Museen, liebevoll kuratiert mit den wichtigsten Gegenständen, die sich im Leben eines Individuums anhäuften. Da wären Polaroids, Postkarten, Stofftiere, Liebesbriefchen, Kinotickets und allerlei weiterer Nippes. Alles verstaut und angesammelt in Schachteln, deren Innenleben einem Labyrinth gleicht. Für außenstehende Entdecker mussten diese Konstellationen ziemlich chaotisch, dadurch aber umso reizvoller wirken. Je länger man so ein Labyrinth betrachtete, desto größer wurde der Sog und desto wohler fühlte man sich in der Geborgenheit, welche diese topographischen Verwinkelungen innerhalb der Schachteln boten. Es war die intime Einsamkeit mit Dingen, die ein anderer zurückgelassen hatte. Die Geheimnisse, die sie beherbergten, und die Erinnerungen, die sie transportieren. Es war sozusagen stets eine interpretative Reise innerhalb einer archivierten Vergangenheit. So kam es auch, dass Esmeralda, welche bei ihrer Großmutter aufwuchs, sich am liebsten im Kinderzimmer ihrer Mutter verbarg und stundenlang die Gegenstände der Abwesenden betrachtete. Behutsam bedacht, die Ordnung nicht zu zerstören und somit auch nicht die Spuren ihrer Mutter zu verwischen. Denn genau das war es, was Esmeralda suchte – Spuren ihrer Mutter.
Diese war schon vor langer Zeit verschwunden und hatte Esmeralda, damals noch keine drei Jahre alt, bei ihrer eigenen Mutter zurückgelassen. Esmeralda blieb nicht viel an Erinnerungen, außer ein paar verblichener Fotos und eben dieser Pappkartons. In einem besonders vergilbten befand sich Esmeraldas Lieblingsgegenstand. Es handelte sich um einen eleganten Handspiegel der Biedermeierzeit. Ein Erbstück, das bereits über Generationen von Mutter an Tochter weitergegeben wurde. Es war ein besonders hübsches Exemplar, welches aus Kirschbaumholz gefertigt worden war und in dessen Griff sich ein kieselsteingroßer Smaragd befand. Nur das eingefasste Spiegelglas war beschädigt. Esmeralda betrachtete sich häufig in der brüchigen Oberfläche, um irgendwie eine Ähnlichkeit mit den Gesichtszügen ihrer Mutter zu erkennen. So blickte sie auch heute gedankenverloren in den Spiegel und versuchte ihre Nase mit Hilfe eines Bildes abzugleichen, als sie plötzlich erschrocken zusammenfuhr. Das Glas ließ einen unscharfen Schemen hinter ihr erkennen. Esmeralda drehte sich abrupt um und sah ihre Großmutter im Türrahmen stehen. Diese ließ einen traurigen Blick durch das Zimmer schweifen und sah dann auf die Reisetasche in ihrer Hand.
Esmeralda wusste, es war wieder an der Zeit. Sie musste zurück ins Internat und ihr gehuldigtes Museum bis zu den nächsten Ferien hinter sich lassen. Ihr Museum, eigens und allein kuratiert von ihrer Mutter.
Beitragsbild: kaboompics I pixabay