Schreibwerkstatt: »Waldspaziergang«
Text zum Thema »Spuren« der Printausgabe 36 der Lautschrift. Geschrieben im Rahmen der Schreibwerkstatt (Prof. Dr. Jürgen Daiber) an der Universität Regensburg.
von Patrick Graf
Sommer. Vogelgezwitscher, Wind, der durch die Blätter fährt, in der Ferne das Plätschern eines kleinen Baches. Grün, soweit das Auge reicht, kräftige Bäume, blühende Sträucher und Büsche. Dicht bewachsen und naturbelassen. Kein Lärm von großer Maschinerie, keine Menschenhand, die in irgendeiner Form eingreift, abholzt oder anpflanzt. Und doch war dort, völlig unverkennbar, vielleicht gerade einmal breit genug für zwei Personen, ein Trampelpfad zu sehen. Hector liebte die Natur. Jeden Tag ging er spazieren und dabei stets denselben Weg durch einen dicht bewachsenen Wald unweit von seinem Haus und es dauerte nicht allzu lang, bis sich ein kleiner, kaum merklicher Pfad abzeichnete. Der Boden platt getreten, die Äste durch das ständige zur Seite schieben verbogen oder gar abgebrochen. Was das Leben auch für ihn bereithielt, ob Freude oder Trauer, diesen Weg würde er nie ablegen. Auch nicht als er seine Frau, Maria, kennenlernte. Gemeinsam lachen, gemeinsam wachsen, gemeinsam spazieren gehen und gemeinsam Spuren hinterlassen. Der Pfad passte sich an, wurde Stück für Stück ein bisschen ausgeweitet und mit der Zeit immer breiter. Es gab keine Arbeit, die wichtig genug gewesen wäre, keinen Termin, der dringend genug gewesen wäre und keinen Anruf, der laut genug geklingelt hätte, um den beiden ihr Ritual zu nehmen. Dieser Weg war nur für sie und was auch geschah, niemals würden sie den Weg mit einem anderen Menschen teilen. Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr gingen sie ihren Weg und immer gingen sie zusammen. Sie liebten die Natur und betrachteten von ihrem Pfad aus die Bäume, die einen, wie sie wuchsen, gediehen und blühten, andere, die am Ende ihres Lebens kahl wurden, schwach wurden und fielen. Und so sollte die Kraft auch Hector verlassen. Seine grünen Augen waren über die Jahre grau geworden, sein buschiges Haar immer dünner und seine Knochen morsch und zerbrechlich, bis er schließlich eines Tages seine letzten Fußspuren im Wald hinterließ, bevor es Zeit für ihn war endgültig zu gehen. Zeit, seinen Pfad für immer zu verlassen und Zeit, von Maria Abschied zu nehmen. Winter. Absolute Stille, kein Wind und kein Geplätscher. Grau, soweit das Auge reicht, blattlose Bäume, dürre Sträucher und Büsche. Eine eisige Kälte, die nicht zu durchbrechen war. Kein Mensch würde bei diesem Wetter einfach um des Rausgehens willen das Haus verlassen. Und doch sah man dort, völlig unverkennbar, eine Frau, die die Natur einfach lieben musste. Sie ging allein auf einem Pfad, der ganz gewiss breit genug für zwei Personen war.
Beitragsbild: Larisa-K I pixabay