»Trugschluss«
Ein Text über das Lernen, sich selbst Organisieren und ein wenig (ver)zweifeln im Hinblick auf die anstehende Prüfungszeit.
Von Lara Süttner
Draußen ist es eisig kalt und ein verregneter Wind zerrt an mir. Sobald ich das Gebäude betreten habe, kann ich mich endlich von meiner durchnässten Jacke und den klammen Handschuhen befreien. Ich habe noch die Playlist vom Radfahren auf den Ohren und schlendere im Rhythmus dazu durch die Gänge der Uni, dabei finden meine Füße wie von selbst zu ihrem Ziel. Ich nehme an einem Tisch in der Bibliothek Platz und breite meine Unterlagen über den Tisch aus. Ich sitze wirklich nah an der Deckenuhr.
Noch fünf Stunden
Ich habe mir ein paar Gedanken gemacht und eine To-Do-Liste erstellt. Mich beschleicht das Gefühl, als hätte ich alles im Griff. Ich hole meine Bücher aus dem Rucksack und staple sie über der Aufgabenliste. Dann nehme ich einen Schluck aus der Wasserflasche, die ich mitgebracht habe und reihe sie neben meinen Arbeitsunterlagen ein.
Noch vier Stunden
Ich gucke dabei zu, wie die Zeit auf der Uhr verrinnt. Ich kann mich noch nicht ausreichend konzentrieren, um endlich anzufangen und irgendwie ist meine Motivation auch flöten gegangen. Sie spielt ein Solokonzert, wahrscheinlich irgendwo in Panama. Vielleicht sollte ich erstmal ein paar Nachrichten beantworten.
Noch drei Stunden
Langsam tauche ich wieder aus dem Internet auf. Mein Kopf ist in der Zwischenzeit mindestens zwei Kilo schwerer geworden und muss von meiner Hand gehalten werden, um nicht auf den Tisch zu fallen und durch das Holz zu brechen. Ich habe noch nichts von dem angefangen, was ich erledigt haben wollte. Mein Kleinhirn versucht verzweifelt Kommandos an mein motorisches Nervensystem zu geben. Doch meine Finger befinden sich im Streik.
Noch zwei Stunden
Über holprige Umwege müssen die Apelle des Kleinhirns durchgedrungen sein, denn auf einmal finde ich mich wieder, wie ich im wilden Galopp meinem Zeitplan hinterherjage.
Noch eineinhalb Stunden
Kommt es mir nur so vor oder gibt die Uhr wirklich laute Tack-Tack Geräusche von sich, wenn sich der großen Sekundenzeiger bewegt und immer beim Verstreichen einer vollen Minute?
Noch eineinviertel Stunden
Tack.
Ich überlege, ob ich mir nicht etwas zu Essen holen soll. Das wäre wirklich sehr wichtig. Ich spinne weitere Gedanken, wie ich meinen To-Dos entkommen könnte. Indessen frage ich mich auch, ob mir meine Zukunft wirklich so wichtig sein müsste. Ich stelle in Frage, wie sehr sich später der Stress gelohnt haben könnte und analysiere, wie schwer der Leistungsdruck zurzeit auf meinem Körper lastet.
Noch eine Stunde
Nach ausführlichen Überlegungen, sind den Gedanken Taten gefolgt: es ist eine Klopause geworden, in der ich auch meine Wasserflasche wieder auffülle. Ich habe das Gefühl, ich komme zu nichts und wäge ab, ob das an meiner ineffizienten Lernstategie liegt, an meiner unentschlossenen Herangehensweise oder ganz einfach an mir persönlich. Keine leichte Frage. Ich sollte mir einen Moment Zeit nehmen, darüber nachzudenken.
Noch fünfzehn Minuten
Ich bringe angefangene Arbeiten langsam zu einem mehr oder weniger befriedigenden Ende. Ich habe doch mehr geschafft als ich dachte und wiederum weniger als geplant. Ich könnte mir jedoch fast einreden, ich wäre fertig geworden. Aber es ist nur eine To-Do-Liste von vielen, die ich mir in den kommenden Tagen schreiben werde.
Ich lebe im fiktiven Raum-Zeit-Kontinuum meines Terminplaners. Mein Herz schlägt im Rhythmus der Wörter, die ich auf Karteikarten schreibe. Meine Gedanken drehen sich wie bunte Plastikkreisel um sich selbst und um einander, dabei stoßen sie sich gegenseitig aus der Bahn und fallen einfach um, wenn ihnen die Energie ausgeht. Meine Füße gehen wie ferngesteuert die Wege, die sie jeden Tag gehen.
Währenddessen habe ich den Überblick verloren, über das, was ich eigentlich für mich selbst geplant habe. Und über das, was mein Gehirn da mithilfe von Aufgabenlisten und Terminkalendern für mich zu organisieren versucht. Ich weiß nicht mehr, was ich gut kann, was ich gerne mache und wer ich sein wollte, als ich angefangen habe zu planen. Mein Hirn und ich müssen uns irgendwo verloren haben zwischen »Mi 13.30 Uhr« und »Im ersten Schritt spaltet die Decarboxylase das Acetyl-CoA«. Ich muss meine Prioritäten geopfert haben beim Emporklimmen des heiligen Email-Postfach-Berges.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich mich fühlen soll, wenn mir bewusst wird, dass dieses Leben vielleicht genau das ist, wovon ich geträumt habe, als ich noch in der Schule halbherzig dem Unterricht gelauscht habe. Als wissensdurstige Schülerin dachte ich mir: Ich will mein Leben selbst bestimmen, ich will etwas tun, was mich glücklich macht, was die Welt verändern kann.
Ich möchte nicht »Nur noch durchhalten bis die Klausurenphase vorbei ist…«
Noch fünf Minuten
Ich packe meine Bücher, meine Flasche, meine Stifte, die Zettel und Karteikarten wieder in meinen Rucksack. Ich stehe auf und setzte die Kopfhörer auf meine Ohren. Ich lasse meine Gedanken auf dem Tisch der Bibliothek zurück und ziehe los zu meinem nächsten Termin im Kalender.
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