»Schulterblick«
Zwischen den Jahren klettere ich auf meiner endlosen Gedankenleiter auf und ab. Meine Erkenntnis: Die Sage Orpheus und Eurydike, Filme wie Portrait De La Jeune Fille En Feu, das Autofahren in der Fahrschule sowie Silvester haben etwas Essenzielles gemeinsam. Klingt abstrus? Dann lasst mich erklären.
von Franziska Leibl
Schulterblicke à la française
Eilig stürmt die Porträtmalerin Marianne die Treppe hinunter. Völlig außer sich schnappt sie nach Luft – nicht etwa, weil ihre Ausdauer so schlecht ist, sondern vielmehr, weil das Korsett zu eng geschnürt ist: Die Denkmuster und Gesetze der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts verwehren es ihr, bei ihrer großen Liebe, der Adeligen Héloïse, zu bleiben. »Retourne-toi!« (dt. »Dreh dich um!«), ruft Héloïse entschlossen ihrer Liebhaberin hinterher, als diese bereits in der Tür steht. Marianne zögert kurz: Ihr Auftrag war es lediglich, Héloïse zu zeichnen, um deren zukünftigen Ehemann eine Art »Vorgeschmack« der ihm noch unbekannten Braut bieten zu können. Dass sich beide Frauen dabei ineinander verlieben und eine leidenschaftliche Romanze erleben würden, war keineswegs vorhersehbar. Der Schmerz über das nun erzwungene Liebes-Aus ist umso unerträglicher. Dennoch fasst Marianne den Entschluss des verbotenen Orpheus-Blickes und dreht den Kopf rasch über ihre Schulter; wem sie dabei plötzlich gegenübersteht, ist eine kaum wiederzuerkennende Héloïse im schillernd weißen Hochzeitskleid. Sie ähnelt einem schwebenden Geist. Danach fällt die Tür ins Schloss. Alles wird schwarz. Stille.
Besonders in diesen letzten Tagen des Jahres 2023 ist mir die soeben beschriebene Szene aus meinem Lieblingsfilm Portrait De La Jeune Fille En Feu vermehrt in den Kopf geschossen. Keineswegs, weil das Motiv des Umdrehens, das die Regisseurin Céline Sciamma in ihrem Film verarbeitet hat, eine Neuheit wäre – wie soeben kurz angedeutet, lässt sich das Motiv bereits in der vielzitierten griechischen Sage von Orpheus und Eurydike finden, und ist zudem in unzähligen weiteren Filmen bei Abschiedsszenen zu sehen – Nein, der Grund, aus dem ich momentan ständig über diese wortwörtlichen Wendepunkte nachdenke, ist der bevorstehende Jahreswechsel, der in eine Zeit des Rückblicks und des gleichzeitigen Vorausschauens fällt.
Schulterblicke wollen erlernt sein
Seltsamerweise bleibe ich genau auf dieser Gedankenleitersprosse stehen. Im selben Moment kommen mir die Fahrstunden meines 16-jährigen Ichs in den Sinn, genauer gesagt: Erinnerungen an das Erlernen des berühmten Schulterblicks. Bei jedem Abbiege- oder Spurwechsel-Vorgang sei er ein Muss, um die praktische Führerschein-Prüfung zu bestehen – und selbstverständlich auch, um keine Fahrzeuge oder Personen im Toten Winkel zu übersehen. Das wurde mir mehrmals von meinem Fahrlehrer eingetrichtert – und das ist auch gut so.
Nur, ihr lieben Auto- und Fahrradfahrer:innen da draußen, fasst euch ans Herz: Wie habt ihr’s mit beherzt-gründlichen Schulterblicken?
Dieselbe Gretchen-Frage ließe sich auch heute an Silvester stellen: Wann haben wir das letzte Mal einen vollumfänglichen Schulterblick gewagt? Nicht nur einen kurzen Rückspiegelblick à la »Da wird schon nichts Wichtiges gewesen sein, freie Fahrt voraus!«, analog zum Betrachten von Instagram-Recaps oder dem Hören von Spotify Wrapped, welche lediglich Momentaufnahmen des vergangenen Jahres darstellen. Nein, ich meine einen echten Blick in die vergangenen Tage: In die toten Winkel, die dunklen grausigen Ecken der Fehler und Momente des Schmerzes und Scheiterns. Oder eben auch Rückblenden in die Augenblicke der Freude: Des Gemeinsamseins, der Liebe, des Erfolgs, des Glücks, der freudigen Überraschung. Ja, wann haben wir das letzte Mal an einem Jahresende eine gründliche Retrospektive mit all diesen ungefilterten Gefühlen zugelassen?
Zugegeben: Das klingt fast so, als hätte ich zu viel Staub eingeatmet, während ich auf einer schlecht imitierten Sigmund Freud-Couch einschlafen bin. Daher lieber wieder zurück zum Real-Beispiel:
Nackenstarre kann tödlich sein
Wer in voller Fahrt ist, und den Schulterblick wagt, sollte keine Nackenstarre bekommen. Der Blick muss wieder zurück auf die Straße gehen und sollte zur Zielgerade gerichtet werden – denn wer einzig und allein dem Zurückliegenden die volle Aufmerksamkeit schenkt, wird sehr schnell Probleme bekommen und einen Unfall bauen.
Einhergehend, übertragen auf unser alltägliches Leben, ist es auch eine berechtigte Frage, wann wir uns das letzte Mal eine Nackenmassage gegönnt haben, äh, wann wir uns das letzte Mal gefragt haben, wofür wir dankbar sind, was wir ändern wollen, was uns Sorge bereitet – im Hier und Jetzt und in naher Zukunft. Mit Änderungswünschen meine ich nicht zwingend Jahresvorsätze, die sowieso nie eingehalten werden, sondern tiefe, innere Wünsche; Ziele und Träume, die wir in stressigen Momenten des Alltags gerne einfach unter den Tisch fallen lassen. Genau diesem Vergessen wollen Schulterblicke entgegenwirken: Indem sie Momente des Vergewisserns, Akzeptierens und auch des Abschließens verkörpern: »Ich habe nachgesehen, obwohl es nervig oder anstrengend ist. Es ist abgeklärt – ich kann nun unbesorgt weiterfahren, ohne etwas oder jemanden zu übersehen und zu schädigen.«
Vielleicht braucht es genau solche Blicke, bevor man sich an Silvester kopflos auf Fondue oder Raclette stürzt, sich im Anschluss beschwipst über Feuerwerke freut/ärgert und im selben Moment einen Mund für den Konsens-Neujahrskuss sucht – nur um dann in ein vermeintlich neues, besseres Jahr zu starten, in dem doch ohnehin alles im gewohnten Auf und Ab weitergeht.
Neues Jahr, neues Glück?
2023 war in meinen Augen ein extrem aufwühlendes und chaotisches Jahr. Vom Weltgeschehen und der Politik mal ganz zu Schweigen. Im neuen Jahr wird es mit Sicherheit so weitergehen. Dennoch kann ich voll Dankbarkeit – nach einem äußerst ausführlichen Schulterblick – für mich persönlich festhalten: Trotz oder gerade wegen all der Auf und Abs, war 2023 mein bisher schönstes miterlebtes Jahr (was ich interessanterweise noch nie zuvor über ein vergangenes Jahr gesagt habe) – und da einige Erlebnisse und Erkenntnisse noch mindestens bis ins Neue Jahr weiterwirken werden, bin ich auch bereits sehr gespannt auf Letzteres. Ich gehöre folglich nicht zu den Menschen, die postulieren, dass man Erinnerungen an das vergangene Jahr komplett beseitigen müsse, um einem »Neuanfang« entgegensehen zu können.
Vielmehr möchte ich hiermit gezeigt haben, dass Schulterblicke erfrischend sein können – eigentlich zu jeder Zeit, aber besonders eben in Momenten des vermeintlich endgültigen Abbiegens und Spurwechsels: Im Straßenverkehr. Und im Jahreswechsel. Wege verlaufen selten geradlinig und stets geradeaus, daher ist es für das Angewöhnen eines solch ausgeglichenen, retrospektiv-vorwärtsschauenden Blickes nie zu spät. Wer ehrlich und bewusst zurückblickt, kann auch Vieles davon mitnehmen und daraus lernen: Sei es auch nur, dass man weiß, woran man dankbar festhalten oder wofür man weiterhin kämpfen möchte.
In diesem Sinne: Guten und sicheren Rutsch – hoffentlich ohne Hals- und Beinbruch und Nackenstarre, dann steht dem Schulterblick auch nichts mehr im Wege!
Beitragsbild: barisgnaus I Pixabay