Wo die Welt zu Hause ist
Weltweit leben immer mehr Menschen in Großstädten. Dicht an dicht stapeln sich die Bewohner:innen in Gebäuden, deren Dimensionen unsere Vorstellungskraft weit übersteigen. Was bedeutet das für die Lebensqualität? Ein Besuch in New York.
Von Hannah Eder
Im späten Herbst geht die Sonne schon früh über dem Hudson River unter. Direkt hinter der Freiheitsstatue verschwindet sie scheinbar im Wasser, während in Manhattan weiterhin der Dampf aus den Gullis steigt, die Betreiber:innen der Imbissstände am Straßenrand langsam den Grill auskühlen lassen und in den umliegenden Wolkenkratzern die Lichter angehen. New York, die »Stadt, die niemals schläft« – über acht Millionen Menschen leben hier und mindestens nochmal so viele kommen täglich zum Arbeiten in die Stadt. Als Tourist:in ist man nur Zuschauer:in, fragt sich aber unweigerlich, wie es sich anfühlen muss, hinter einem der hell erleuchteten Fenster zu leben oder zu arbeiten.
Willkommen in einer anderen Dimension
Zuhause in Regensburg ist alles sehr beschaulich. Läuft man durch die Straßen der Altstadt, begegnet man regelmäßig bekannten Gesichtern. Stellt man sich dagegen nicht auf den Neupfarrplatz, sondern an den Times Square, wird man schier überrollt von der Menge an Menschen, die sich zwischen den Autos vorbeischiebt. Der Regensburger Dom kann mit seinen 105 Metern als eines der höchsten Gebäude der Stadt gezählt werden – noch höher ist eigentlich nur der Fernsehturm. Im Vergleich: Das höchste Wohngebäude in Midtown Manhattan ist der Central Park Tower (472 Meter). Stapelt man den Regensburger Dom also viereinhalb Mal, kommt das gerade so hin. Über 104 Stockwerke verteilt, gibt es darin Wohnungen, die sich bei einem Blick auf die Lebenshaltungskosten in den USA nur ein Bruchteil der Bevölkerung überhaupt leisten können. In New York zu leben ist mehr als doppelt so teuer wie im Rest der Vereinigten Staaten– vom Vergleich mit Deutschland ganz zu schweigen – und die Schere zwischen Arm und Reich klafft weit auseinander. Während über den Köpfen der Menschen die Hochhäuser glitzern, sitzen unten im Staub der vollgestopften Straßen, inmitten von weggeworfenen Plastikbechern und Papiertüten, diejenigen, die sich überhaupt keine Wohnung leisten können. Allein im September 2023 wurde in New Yorks Obdachlosenunterkünften 87.907 Menschen ein Dach über dem Kopf geboten, die Dunkelziffer derjeniger, die draußen in der Kälte schlafen ist vermutlich deutlich höher.
Stadt der Träume?
New York verspricht alles, aber es verschenkt nichts. Besonders Empire State Building und Chrysler Building stehen mit ihren schicken Fassaden und Foyers im Art-Déco Stil der 1920er und 1930er Jahre für die großen Träume von Erfolg und Wohlstand. Immer überragt wird die Stadt vom One World Trade Center, dem höchsten Gebäude der Stadt und einem Monument des Kommerzes. Ja, in New York geht es um Big Business, aber auch um Kunst und Kultur. Mit dem MoMA und dem Guggenheim-Museum beherbergt die Stadt zwei der renommiertesten Kunstmuseen der Welt und wird gleichzeitig an anderen Orten zur Leinwand für Street-Art und eine alternative Kulturszene. Ein Spaziergang durch die Viertel und Boroughs der Stadt führt durch alle Stadien zwischen Gentrifizierung und Subkultur und lässt, wie bei einem Puzzle, das Bild einer unfassbar vielseitigen und hochkomplexen Stadt entstehen. Darüber hinaus wird schnell offensichtlich, dass sich nicht nur Carrie Bradshaws, Barney Stinsons und Blair Waldorfs in den Straßen tümmeln, sondern ein bunter Mix aus Ethnien und Bevölkerungsschichten, die jeder Stereotypisierung widersprechen und die für die vielen Gesichter New Yorks verantwortlich sind. Wohin man auch spaziert, hinter jeder Hausecke verbirgt sich eine ganz andere Stadt als die, auf die man in der vorangehenden Straße geblickt hat.
Aus Filmen über New York ergibt sich in Deutschland dennoch häufig ein Bild dominiert von weißen Arbeitnehmer:innen, die sich immer ganz vorne auf dem Sprungbrett zum großen Durchbruch befinden – kurz davor, in der Anwaltskanzlei Partner:in zu werden, in einer bekannten Zeitschrift die Beförderung zum:r Ressortleiter:in zu bekommen oder auf den Bühnen des Broadway aufzutreten – und die dabei niemals Zeit haben, zu Hause zu kochen oder sich gemütlich mit Freund:innen in ein Café zu setzen. Stattdessen gibt es take-away food vom Imbiss um die Ecke oder einen schnellen Kaffee von Starbucks oder austauschbaren anderen Franchise-Unternehmen. Dass das überzeichnet ist, ist keine Frage. Trotzdem stellt sich beim mehrtägigen people watching das Gefühl ein, dass die Mehrheit der New Yorker:innen tatsächlich (teils gezwungenermaßen) eher lebt, um zu arbeiten als andersherum. Mieten, Lebensmittel, Unterhaltung – alles kostet, und das nicht gerade wenig. Dafür arbeiten die New Yorker:innen hart: Ihre durchschnittliche Arbeitswoche inklusive Arbeitsweg umfasst 50 Stunden. Bleibt da überhaupt noch viel Raum für Freizeit? Möglich also, dass die zahlreichen Möglichkeiten, mit denen die Stadt lockt, vorwiegend Tourist:innen vorbehalten sind.
Gemeinsam Einsam
Besonders in der Literatur grassiert häufig die Vorstellung, das Leben in einer Großstadt mache einsam. Der Begriff Vereinzelung fällt, genauso wie Bedenken über Anonymität, bewusste Abgrenzung und die Verlagerung sozialer Kontakte in die virtuelle Welt – aus Bequemlichkeit, aber auch aus Notwendigkeit. Auslöser für diese Bedenken gibt es viele. Einen prominenten Platz bekommt aber immer die Industrialisierung, die zu einer radikalen Veränderung der Lebensumstände vieler Menschen beitrug. Städte wuchsen rasant, immer mehr Menschen drängten sich in begrenzten Raum – eine Entwicklung, die sich bei uns in Deutschland genauso vollzog, wie in New York. Was damals den Grundstein für die Verschiedenheit der New Yorker Bevölkerung und die Jahrzehnte rasanten Wirtschaftswachstums legte, ist heute Grund zur Besorgnis. Ressentiments gegenüber Randgruppen zeigen sich in anhaltenden Vorurteilen, aber auch in der feindlichen Architektur, mit der die Stadt New York Obdachlosen begegnet. Gleichzeitig werfen die langen Arbeitszeiten der New Yorker:innen die Frage auf, wie viel Zeit und Energie für das Pflegen sozialer Kontakte und gegenseitiger Fürsorge bleibt.
Im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts imaginierten Dichter:innen mit der Großstadtlyrik des Expressionismus, wie das dicht gedrängte Leben in anonymen Wohnverhältnissen und unter erhöhter Abgasbelastung den Menschen nach und nach korrumpieren kann und jede soziale Nähe unmöglich macht. Später, im deindustrialisierten Großbritannien der 1960er Jahre, widmete sich unter anderem der Roman »High-Rise« von J.G. Ballard in einer dystopisch-apokalyptischen Vision den Klassenkonflikten und unausgelebten anarchistischen Tendenzen, die in den Bewohner:innen einer Großstadt schlummern. Und erst kürzlich hat die österreichisch-japanische Schriftstellerin Milena Michiko-Flasar mit ihrem Roman »Oben Erde, unten Himmel« eine Ode an das Wiederfinden von Gemeinschaft inmitten der Anonymität einer japanischen Großstadt veröffentlicht. Auch über New York, dessen einzelne Fenster nachts unentwegt beleuchtet sind, wie kleine aufeinandergestapelte Kapseln, könnte man solche Gedankenspiele unendlich fortspinnen und sich fragen, wie in diesem urbanen Dschungel engmaschige Gemeinschaften entstehen können. Lebendige Stadtteilkultur, von der man auf ausgedehnten Spaziergängen, beispielsweise im Greenwich Village oder dem Brooklyner Stadtteil Bushwick, Ausschnitte zu sehen bekommt zeigen aber, dass es immer irgendwie doch funktioniert – oft eben nicht planbar.
Alles nur Fassade?
Eine Großstadt wie New York potenziert die sozialen Probleme unserer Zeit. Und trotzdem fasziniert uns ihr Anblick. Wie ein Naturdenkmal bestaunen wir die Wolkenkratzer, geben uns dem pulsierenden Leben von Midtown Manhattan hin und träumen uns in die Luxuswohnungen des hundertsten Stocks hinein. Glanz und Glamour spiegeln sich in den Häuserfronten und überdecken auf den ersten Blick die Defizite unserer modernen Gesellschaft, die auf Individualität, Konsum und Schnelllebigkeit ausgerichtet ist. Natürlich darf man es trotzdem genießen, inmitten dieser überwältigenden Metropole zu stehen und für kurze Zeit Teil des Ameisenhaufens zu werden und sich mitreißen lassen von der Größe und Vielfalt, die die Stadt zu bieten hat. Trotzdem kann es nicht schaden, die Augen offen zu halten nach denjenigen, die durch das Raster fallen – nicht nur in New York, sondern auch zu Hause. Diejenigen, die einsam sind, die wenig besitzen, kurz: diejenigen, die in der Anonymität einer Stadt untergehen. New York hält uns den Spiegel vor – es zeigt uns Traumhaftes, aber auch die Abgründe, die sich in unserem Alltag auftun.
Beitragsbild © Hannah Eder