Spiegelbild/Zukunft
Sie schwebte irgendwo zwischen Leben und Tod, und das seit Jahren. Tag ein, Tag aus, existierte sie, aber sie lebte nicht – wie auch?
von Jule Schweitzer
Sie schwebte irgendwo zwischen Leben und Tod, und das seit Jahren. Tag ein, Tag aus, existierte sie, aber sie lebte nicht – wie auch?
Sie war ein Wunder, eine Gewalt der Natur, und doch war sie nichts, nichts für sich und nichts für andere, außer ein Mittel zum Zweck. Ihre Tage waren gleich, sie waren grau, besprenkelt mit bunten Flecken an Tagen wie diesen. An Tagen, an denen sie es wagte, sich selbst Farbe zu verleihen.
Als sie den roten Lippenstift auftrug, fühlte sie sich wie damals, als Mädchen, als sie mit dem Miniatur-Make-up ihrer Schminkpuppe spielte. Der Geruch von Wachs und Puder kitzelte sie in der Nase. Sie nieste auf den Spiegel.
Das Spiegelbild lächelte ein Lächeln, das sie lange nicht an sich gesehen hatte. Sie lächelte mit dem roten Mund, der genau das richtige Maß an zu viel des Guten war, der lebensnotwendige Farbklecks im Kontrast zu ihrer grauen Hose, ihrer weißen Bluse. Dress for the job you want sagte man, und heute wollte sie alles.
Sie wollte alles, aber sie wollte vor allem den Zug nicht verpassen, den Zug in ihr neues Leben, hoffentlich. In überhaupt ein Leben. Sie steckte den Lippenstift in ihre graue Handtasche, schlüpfte draußen in ihre weißen Schuhe und schloss die Tür der kleinen Wohnung hinter sich ab.
Grauer Himmel, graue Luft, graue Straße.
Sie schritt durch den Regen, die weißen Schuhe waren Wolken. Sie fühlte sich so jung wie lange nicht mehr und beschloss kurzerhand, Blumen zu kaufen. Blumen für ihre Freundin, ohne die sie den Termin heute niemals bekommen hätte. Bei der Gärtnerei um die Ecke fand sie einen Strauß, etwas teuer, aber sehr hübsch. Der einzige Strauß aus violetten Blumen, der Lieblingsfarbe ihrer Freundin.
Sie trug die Blumen auf dem Arm wie ein frisch geborenes Kind, federnd zur Tür laufend, sicher, mehr als rechtzeitig am Bahnhof zu sein.
Im Hof hielt ein Lieferwagen mit quietschenden Reifen. Der Fahrer, chronisch in Eile, stieg aus und öffnete die Tür zur Ladefläche. Er hievte schwere Säcke Blumenerde von der Fläche auf den Boden, wo er sie lautstark fallen ließ. Sechs Säcke lagen vor ihren Füßen und er fuhr davon, bevor die Floristin aus dem Laden eilen und ihm nachrufen konnte.
“Ohje”, sagte die Floristin, “könnten Sie… Nein, sie sind so hübsch angezogen…”
“Was denn?”
“Ich wollte fragen, ob Sie mir beim reintragen helfen können. Mein Rücken tut heute so weh und meine Kollegin ist krank, ich…”
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ein wenig Zeit hatte sie.
“Schon gut. Ich helfe gerne.” Die Floristin strahlte, löste den Knoten ihrer eigenen Schürze und reichte sie an sie weiter.
Gemeinsam hoben und häuften, schleppten und stapelten sie die Erde im Lagerraum der Gärtnerei. Schweiß stand auf ihrer Stirn und alles, woran sie denken konnte, war, ob ihre braunen Locken noch richtig sitzen würden, wenn sie fertig waren. Sie lächelte und lächelte die Floristin an, immer im Gedanken daran, den Lippenstift im Zug unbedingt nachziehen zu müssen. Sie wünschte, sie hätte ihren kleinen Kamm ebenfalls eingesteckt.
Als endlich alle sechs Säcke im Lager lagen, schmerzte ihr unterer Rücken und sie entdeckte einen winzigen braunen Fleck auf dem Ärmel ihrer Bluse, der zuvor noch nicht dort gewesen war. Einer der Säcke musste aufgeplatzt sein.
Es war etwas zu viel Zeit vergangen, um sich darüber Gedanken zu machen. Sie verabschiedete sich hastig von der Floristin, die sich bedankte, und hob ihren Strauß von dem kleinen Tisch mit der Kasse auf.
Ein Blumenkopf war bereits leicht verwelkt, wie sie feststellte. Zuvor war ihr das gar nicht aufgefallen, doch jetzt war es zu spät. Außerdem war das doch der letzte lilafarbene Strauß gewesen. Sie drehte die Blumen so, dass das verwelkte Köpfchen von den anderen überdeckt wurde und trat erneut aus der Gärtnerei, den Neugeborenen-Strauß auf dem Arm.
Weiter, weiter, weiter, jetzt musste sie laufen, die schönen weißen Schuhe platschten durch die Pfützen. Sie konnte keine Rücksicht mehr nehmen auf Ordnung. Sie musste hoffen, dass ihr niemand auf die Schuhe sehen würde und wenn doch, dass man ihr für ihre Nachlässigkeit verzeihen könnte. Der Blumenstrauß erzitterte in ihren Armen. Blüten taumelten zu Boden. Sie selbst taumelte, sie stolperte, sie kämpfte sich durch die Menschenmasse am Bahnhof, sie kämpfte sich in den Zug, sie stand, sie stand noch und sie wartete. Auf einen freien Platz, Fensterblick, auf Ankommen, in der Zukunft ankommen. Ihrer Zukunft.
Der Zug fuhr um eine scharfe Kurve, sie hielt sich fest, als hinge ihr Leben an der eisernen Stange über ihrem Kopf. Tat es ja auch ein bisschen.
Trotzdem stolperte sie. Die Blumen bremsten ihren Sturz gegen dem Fremden vor ihr. Ein dumpfer Schmerz auf Höhe ihres Schulterblatts, dann kalt, dann nass und kalt, als liefe ihr der Regen von draußen den Rücken hinunter. Sie drehte sich um und sah auf die Brustaufschrift eines Kapuzenpullis, Zentimenter vor ihren Augen. Der Kapuzenpullover hielt eine Flasche Bier in der Hand, an deren Seite frischer Schaum klebte. Der Kapuzenpulli war sauer auf den Zug, sauer auf seine Flasche, sauer auf den Hersteller der Flasche. Der Kapuzenpulli zeterte und schimpfte ins Leere. Er beachtete sie nicht einmal.
Dunkelroter Zorn breitete sich in ihrem Bauch aus, prickelte auf ihrer Hautoberfläche und schien sie von ihrem Rücken aus anzuschreien: »Schau nur, was er gemacht hat, dieser Trampel«.
Die Blumen in ihrem Arm forderten Rache, forderten Blut für Blut, Blüte für Blüte.
Sie? Sie wollte Ruhe in ihrem Kopf. Jetzt aufregen, was würde das schon helfen? Es würde die Nässe nicht aus ihrer Jacke wringen, sondern eher noch ihre Bluse zerknittern, ihre Haare zerzausen, vielleicht würde der Lippenstift um ihren Mund verwischen, wenn sie ihn zu weit öffnete. Das war ihr zwar noch nie passiert, aber sie konnte kein Risiko eingehen, nicht heute.
Die Fahrt war lang genug, vielleicht würde sie ihr eine Chance zum Trocknen geben, mit jedem zurückgelegten Kilometer ein bisschen weniger Nässe auf der Bluse, der wunderschönen, extra für den Anlass gekauften Bluse, die sie sich eigentlich nicht leisten konnte.
In ihrer Brust verknotete sich etwas. Daran hatte sie nicht denken wollen. Nicht, dass sie das jemals vergessen könnte, aber sie wollte wenigstens heute so tun, als spielte das Geld keine Rolle. Geld war ihr Schatten, klebte in Form des Second-Hand-Shop-Aufklebers an der Sohle ihrer Schuhe, flüsterte ihr ins Ohr, als der Mann neben ihr versehentlich mit dem Ärmel seines teuren Anzugs ihren Kopf streifte. Geld war dieser Zug, diese eigentlich viel zu lange Strecke, die es ihr wert war.
Es war so viel wert wie der Traum, den sie schon so lang hegte und pflegte, über den sie öffentlich lachte und um den sie hinter verschlossenen Türen heimlich weinte. Er hatte sie verstoßen und belächelt, ihr wieder und wieder bewiesen, dass sie ihn nicht verdient hatte. Doch sie hatte ihn festgehalten, wie sie den Strauß gerade festhielt, bis sich die Dornen des Traumes in ihre Handflächen gebohrt hatten und schwarzes Blut auf den Boden getropft war. So hatte sie ihren Blutschwur geleistet und heute war der Tag, an dem der Traum seine Blutschuld einlösen würde, ob er wollte, oder nicht. Auch eine Gärtnerei, dreckige Schuhe und eine nasse Bluse würden ihr nicht dabei im Weg stehen.
Mit ungewohnter Siegessicherheit sah sie aus dem Fenster, sah der Welt dabei zu, wie sie an ihrem Waggon vorbei schaukelte. Zwischen ihr und der Welt stand nur ihre Reflektion, grauer und mit mehr Falten, als sie sich in Erinnerung hatte. Viel mehr Falten und viel grauer. Vielleicht lag es nur am Dreck an den Fenstern, den der Regen mit all seiner Hartnäckigkeit nicht abspülen konnte. Sie sah durch sich, durch den Dreck hindurch. Sie sah mit ihrem eisernen Blick in die Zukunft, die immer näher kam. Ein Körper bleibt in Ruhe oder geradliniger Bewegung, solange die Summe der auf ihn wirkenden Kräfte null ist.
Sie war lange genug Null gewesen, eingefroren in ihrer Bewegung, keine Kraft von innen, keine Kraft von außen.
Noch zwei Stationen. Zwei – zwei – zwei -zwei – zwei. Die Zahl in ihrem Kopf synchronisierte sich mit dem Klackern des Zugs auf den Schienen. Sie drehte sich um die eigene Achse, so gut das in ihrem überfüllten Abteil möglich war. Ihre Schulter drehte sich unangenehm im Gelenk. Etwas knackte. Die Wände des Wagens waren kaum zu sehen, die Türen nur ein Konstrukt ihrer Vorstellung, so viele Menschen hatten sich inzwischen um sie gesammelt. Sie überlegte, sich in Vorbereitung in Richtung der imaginären Türen vorbei zu schlängeln.
Sie war klein genug, um sich unter ein paar Menschen durch zu bücken, schmal genug, um sich an anderen vorbei zu schieben. Jedoch sah sie bereits die genervten Blicke vor ihrem inneren Auge und hörte die enttäuschten Seufzer in ihren Ohren klingeln und entschied sich dagegen. Stattdessen betete sie inständig an alle Mächte des Universums, dass heute schon genug schiefgelaufen war.
Quietschende Bremsen. In den Bahnhof einrollen. Klopfendes Herz. Wirre Stimmen. Unruhe im Abteil, Unruhe im Kopf. Stehen bleiben. Sich seufzend öffnende Türen. Bewegung in den Reihen. Endlich Bewegung. Ein Körper bleibt in Ruhe oder geradliniger Bewegung, solange die Summe der auf ihn wirkenden Kräfte null ist. Sie wurde nach vorne gedrängt, sie drängte nach vorne. Vorfallsfrei bis zu den Türen. Nur wenig genervte Blicke, nur eingequetscht gemurmelte Entschuldigungen. Vor der Tür, kurz vor der frischen Luft, ein Stoß in den Rücken, wieder, aber heftiger.
“Ich muss da raus jetzt”, in ihrem Ohr, unsanft, zu laut. Ein Tritt in die Kniekehle, versehentlich, wahrscheinlich, und sie ging zu Boden, wurde zu Boden gerissen, fiel auf fremde Rücken, fiel auf ihren Arm. Schmerzen in ihrem Arm, die Blumen völlig zertrümmert zwischen unbekannten Körpern.
Sie rappelte sich auf, schimpfte gemeinsam mit empörten Zungen dem Mann hinterher, der sie alle aus dem Weg geschubst hatte. Sie alle, die auch aus diesem Zug mussten, das gleiche Ziel wie er hatten, aber irgendwie doch nicht. Sie alle hatten Rücksicht genommen, er sah nicht mal zu ihnen zurück, als sie ihm hinterher brüllten.
Sie ignorierte ihren schmerzenden Arm, sammelte die kaputten Blumen erneut auf, die Dornen abgerissen, die Blüten zerfetzt, als hätte die Verwesung bereits eingesetzt.
Die Nässe auf ihrer Bluse war noch immer nicht getrocknet, die Schuhe völlig zerstört. Doch sie war angekommen, endlich angekommen, jetzt oder nie.
Sie lief durch den Bahnhof, jeder Schritt vibrierte in ihrer verletzten Hand, schmerzte. Doch das war ihr egal. Sie hatte heute genug Rücksicht genommen, damit war es jetzt zu Ende.
Sie musste nicht weit weg vom Bahnhof, hatte sich den Weg im Vorhinein eingeprägt, um nicht stehen bleiben zu müssen. Von Nun an würde sie nie mehr stehen bleiben.
Nicht mehr stehen bleiben, bis ihre Füße bluteten, wenn es das war, was es kostete. Sie lief und lief, noch mehr Blüten fielen, noch mehr Schmerzen im Gelenk, mehr Blut in den Ohren, Blut an den Händen, noch kein Blut an den Füßen, nur Regen.
Der Regen war es, der sie vorhin schon so heimtückisch begrüßt hatte, der ihr zum Verhängnis wurde. Denn sie erkannte das Gebäude, dort, auf der anderen Straßenseite. Sie sah das Rot der Ampel, ignorierte das Rot der Ampel.
Sie lief und sie schlitterte, sie schlitterte und rutschte aus, Hände und Blumen zuerst, dann Blumen und Gesicht. Im Fallen fokussiert auf ihr Spiegelbild in einer Pfütze. Ihr Spiegelbild, das nicht mehr sie war. Das sie war, aber mit mehr Falten, mit grauen Haaren, fahler Haut, Farben des Regens, bis auf den Rotstich, den Farbklecks, den sie gewagt hatte, sich zu verleihen, damals, vor so langer Zeit.
Foto von Paul Sittner (@plsttnr auf Instagram)