Mythos Psychiatrie

Mythos Psychiatrie

Psychiatrische Kliniken, umgangssprachlich auch als Psychiatrien bezeichnet, genießen in der allgemeinen Bevölkerung nicht unbedingt den besten Ruf. Jedoch wissen nur die wenigsten, was dort wirklich passiert. Dieser Beitrag räumt mit den gängigsten Vorurteilen und Vermutungen auf.

von Hannah Schmidt

Zwang und Gewalt

Beim Stichwort »Psychiatrie« zucken viele erstmal zusammen. Der 1975 erschienene Film Einer flog über das Kuckucksnest prägt auch fast 50 Jahre später noch die Vorstellung manch »älterer Semester«. In der im Film gezeigten »Nervenheilanstalt« werden schwerwiegende medizinische Eingriffe gegen den Willen der Patient:innen durchgeführt. Dazu gehören Elektroschocks zur Bestrafung und eine Lobotomie[1]. Eines vorab: Zwangsbehandlungen, also das Durchführen medizinischer Eingriffe ohne die Erlaubnis der Patient:innen, sind in Deutschland gesetzlich streng geregelt. Jede ärztliche Zwangsmaßnahme bedarf der vorhergehenden Genehmigung durch ein Gericht. Eine Ausnahme bilden Zwangsbehandlungen in akuten Notfällen – zum Beispiel, wenn die akute Gefahr der Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Aber auch dann muss der zu erwartende Nutzen der Maßnahme in jedem Fall die zu erwartenden Beeinträchtigungen übersteigen. Des Weiteren muss die Behandlung das am wenigsten eingreifende und belastende Mittel sein. Das heißt, dass experimentelle und risikoreiche Verfahren in solchen Fällen nicht zum Einsatz kommen. Die Lobotomie beispielsweise wird bereits seit den 1970ern nicht mehr in Deutschland durchgeführt. Elektrokonvulsionstherapie, auch Elektrokrampftherapie (EKT) genannt, wird hingegen auch heute noch bei schweren psychischen Erkrankungen angewandt. Eine EKT nach heutigen Standards ist jedoch im Gegensatz zur Lobotomie hochwirksam und risiko- bzw. nebenwirkungsarm. Schlafsäle, in denen dutzende Patient:innen gemeinsam untergebracht werden, gibt es heutzutage in Kliniken genauso wenig wie in Internaten. In der Regel ist man als Kassenpatient:in in Doppelzimmern untergebracht, die über normale Türen und Fenster verfügen. Gegen Aufpreis oder als Privatpatient:in kann man sogar ein Einzelzimmer beziehen. Rein architektonisch unterscheiden sich die meisten psychiatrischen Einrichtungen nicht stark von »normalen« Krankenhäusern. Lediglich die OP-Säle fehlen. Für Menschen, von denen die Gefahr der Selbst- oder Fremdgefährdung ausgeht, gibt es zusätzlich sichere Räume.

Der Klinik-Alltag heute

Die oben beschriebenen Zwangsmaßnahmen sind eher Ausnahmen im Klinik-Alltag. Die meisten Patient:innen der psychiatrischen Kliniken sind freiwillig dort und erhalten alle Behandlungen auf freiwilliger Basis. Auch ‚spektakuläre‘ Behandlungen wie die EKT oder neurochirurgische Eingriffe werden vergleichsweise selten angewandt. Häufige Behandlungen sind beispielswiese Psychotherapie in der Gruppe oder einzeln, Ergotherapie, Kunsttherapie, Sporttherapie, Gartentherapie und die medikamentöse Behandlung – je nach Krankheitsbild und Angebot der Klinik. Für jede:n Patient:in wird ein individueller Behandlungsplan erstellt. Eine medikamentöse Behandlung ist nicht zwingend erforderlich, wenn Patient:innen diese ablehnen. Die Teilnahme an den verordneten und vereinbarten Behandlungen ist zwar grundsätzlich verpflichtend, bei Problemen können aber auch Änderungen vorgenommen werden. Regelmäßige Gespräche mit dem pflegerischen und ärztlichen Personal sollen den Behandlungserfolg sicherstellen. Ein wichtiger Faktor beim Genesungsprozess ist die Gemeinschaft der Patient:innen untereinander. Viele Kliniken legen darauf einen besonderen Fokus. In den Gemeinschaftsräumen kann der Tag gemeinsam reflektiert, Gesellschaftsspiele gespielt oder auch gemeinsam gelacht und geweint werden. Auf offenen Stationen dürfen die Patient:innen tagsüber die Station bzw. die Klinik verlassen, um beispielsweise spazieren zu gehen. Auch Besuch darf empfangen werden.

Tipps für Betroffene

Obwohl die dunklen Zeiten der »Nervenheilanstalten« vorbei sind, gibt es dennoch einige Dinge, die nicht in jeder Klink optimal laufen. Grundsätzlich gilt: Gesetzlich Versicherte haben freie Krankenhauswahl. Es ist empfehlenswert, sich vorab umzuhören, wie ehemalige Patient:innen ihren Klinikaufenthalt empfunden haben. Bewertungen im Internet sind zwar mit Vorsicht zu genießen, können aber dennoch Hinweise darauf liefern, ob eine Klinik zu einem passt. Und auch das Behandlungsangebot sollte in den Entscheidungsprozess mit eingezogen werden. Wenn man sich während des Klinikaufenthalts unwohl fühlt, können die Probleme gegenüber einer Person, der man vertraut, benannt werden. Im schlimmsten Fall kann man, solange man freiwillig in Behandlung ist, jeder Zeit abbrechen und nach Hause fahren. Andersherum sollte man sich auch nicht davor scheuen, bei psychischen Problemen Hilfe in Anspruch zu nehmen. Im Fall einer psychischen Krise können Betroffene sich an den Hausarzt/die Hausärztin wenden, Kontakt mit dem ärztlichen Bereitschaftsdienst aufnehmen oder direkt eine psychiatrische Klinik bzw. eine Klinik mit psychiatrischer Abteilung kontaktieren. Im akuten Notfall, d.h. wenn Selbst- oder Fremdgefährdung besteht, kann auch die 112 gewählt werden. Jede:r kann von einer psychischen Erkrankung oder Krise betroffen sein – und mit jede:r meine ich wirklich alle Personengruppen der Gesellschaft. Sich rechtzeitig Hilfe zu suchen ist genauso sinnvoll und vernünftig, wie mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus zu fahren.


[1] Die Lobotomie ist ein neurochirurgisches Verfahren, bei dem gezielt Nervenbahnen des Zentralen Nervensystems durchtrennt werden. Die Operation sollte psychische Erkrankungen und chronische Schmerzen lindern bzw. heilen.

Beitragsbild: Pexels

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