Treffend oder Typus? Eine Reflektion über Selbstbilder
Eigentlich sollte es heute um Überforderung gehen, oder um Überarbeitung. Letztendlich lässt sich aber doch alles auf Selbstbilder zurückführen. Daher stattdessen heute: eine Analyse, was den »bösen Piraten« in der Kindheit so bedrohlich gemacht hat.
von Julia Huber
Ein bisschen Dramentheorie: Was unterscheidet einen Charakter von einem Typus? Charaktere sind vielschichtige Figuren, komplex, immer ein bisschen anders, mit Gedanken und Emotionen. Typen sind starre Schablonen, meistens Manifestierungen einer einzigen Eigenschaft, oft Verkörperungen von Stereotypen: »der Treudoofe«, »der Bösewicht«, etc.
Und als ich ein Kind war, hatte ich Angst vor Typen. Das konnte ich natürlich in diesen Worten nicht benennen, aber rückblickend ist es genau das: Dieses ganz seltsame Gefühl, so schleichend unangenehm, wenn ich eine Figur in einem Kinderbuch oder einer Kinderserie gesehen habe, die sich nicht verändert hat. Die immer gleich gelaunt war. Die immer die gleichen Fehler machte. Die nie jemand fragte: »Wie geht es dir eigentlich?«
Ich konnte es als Kind nicht benennen, aber ich hatte Angst vor allem, was menschlich aussah, aber keine Seele hatte. Ich konnte nicht differenzieren, ich konnte nicht sehen, dass Figuren eben keine Menschen sind und dass die Darstellung als Typus auch einen witzigen Effekt haben kann oder einen lehrreichen, etc. Ich sah nur die einseitigen Charaktereigenschaften, das eingefahrene Verhalten, und dachte mir: »Irgendwas stimmt mit diesem Menschen nicht« und dann hatte ich Angst.
Ich hatte außerdem phasenweise Angst vor Piraten. Ich dachte mir: Was, wenn ein böser Pirat in mein Zimmer kommt und der Pirat keine Seele hat? Was, wenn man nicht mit ihm reden kann, weil er sich nicht ändern kann, weil er starr festgefahren ist in dem Kostüm »böser Pirat«, oder eher: Was, wenn es gar kein Kostüm ist, sondern die feste Essenz seines Daseins? Vor dieser Angst konnte ich mich selbst nicht mehr beruhigen.
Beides sind Erinnerungen, die mir in letzter Zeit gekommen sind. Und zufällig kamen sie im Zusammenhang damit auf, dass ich mich mit Selbstbildern beschäftigt habe. Was mich zu der Frage brachte: Wie viele unserer Selbstbilder sind eigentlich Typen? Und wenn das so ist, sind sie dann so erstrebenswert?
Nehmen wir das Beispiel »erfolgreich in Prüfungen«. Sehr viele Menschen in meinem Umfeld, ich wahrscheinlich eingeschlossen, haben dieses Selbstbild. Seit der Schule ordnen wir uns selbst so ein, werden von anderen so eingeordnet, haben uns irgendwie daran gewöhnt, dass wir das sind, dass gute Leistungen zu erbringen zu uns gehört. Natürlich gibt es noch andere. »Immer für meine Freund:innen da« ist auch so eine Sache – dieser Glaube, das man immer weiter genug Energie hat, um sich um alle zu kümmern, eben weil ja das eigene Selbstbild ist, dass man so ein:e gute:er Freund:in ist.
An sich sind das ja positive Selbstbilder. Aber sie haben eine Kehrseite. Nämlich dann, wenn wir uns entwickeln und bemerken, dass es uns schwerer fällt, die Bilder zu erreichen. Dann gesellt sich zum Beispiel zu dem Selbstbild »erfolgreich in Prüfungen« ein enormer Leistungsdruck, das Selbstbild »immer für alle da« wird dann zum Beispiel Grund dafür, dass man sich selbst vernachlässigt. Jetzt sind wir allerdings als Student:innen alle in einer Phase, in der wir uns viel entwickeln. Vielleicht heißt das, dass wir alle damit zu tun haben, dass Selbstbilder von früher, aus der Heimat zum Beispiel, einfach nicht mehr passen. Da könnte man denken: »Okay, los, dann suchen wir uns alle neue Selbstbilder.« Aber vielleicht könnte man auch fragen: Wie viele der Selbstbilder sind eigentlich Typen?
Die Einser-Studentin, die mühelos durch ihre 40LP pro Semester durchspaziert, sich stundenlang konzentrieren kann, ihr Wissen immer im Kopf behält und dabei nie gestresst ist.
Der Helfer-Typ, der alle immer aufbaut, für alle ein offenes Ohr hat und allen immer eine Stütze ist, immer lächelnd, immer freundlich, komplett ohne eigene Probleme und nie am Ende seiner Kräfte.
Die gibts doch gar nicht. Das sind doch auch Typen, Figuren ohne Seele, ohne Raum, sich zu verändern, ohne Emotionen. In ihrer Innenwelt herrscht immer das gleiche Wetter. Wenn ich sie als Kind in einer Kinderserie gesehen hätte, hätte ich wieder die leise Angst bekommen. Und wenn dem so ist – warum will ich das dann sein? Warum jage ich einem Bild hinterher, das gar nicht menschlich ist, das ich nie erreichen kann, eben weil ich Emotionen habe? Und mir gefällt es ja nicht mal. Mir ist doch eigentlich das Menschsein lieber: Die Emotionen, die Phasen, in denen alles scheiße läuft, der Raum für Veränderung, die ganze Veränderung, die ich schon hinter mir habe, das Fühlen.
Aber ehrlicherweise ist auch das beängstigend. Denn wenn ich mich an ein Selbstbild klammere, auch wenn es nur ein Typus ist, dann weiß ich immerhin, wer ich bin. Wenn ich die Rollenbilder gehen lasse und mich der Tatsache stelle, dass ich inmitten eines vielleicht ewigen Prozesses von Veränderung bin, dann kann ich gar nicht greifen, wer ich bin.
Aber ganz ohne Angst geht es vielleicht nicht. Und wenn man sich verändern kann und sich selbst überraschen kann, hat man ja immer auch die Option, doch noch mutig zu sein.
Beitragsbild: Elena Theodoridou I Unsplash