Über den Wolken
Dieser Text ist über den Wolken im September 2022 auf dem Weg nach Andalusien entstanden – und zeigt, wie klein die Welt aus acht Kilometern Höhe eigentlich wirkt. Denn Europa aus der Luft sieht eigentlich wunderschön aus. Doch auch das, was man in der Heimat zurückgelassen hat, wirkt plötzlich so unscheinbar – oder?
von Yvonne Mikschl
Im Flieger wird einem oft erst bewusst, wie klein die Welt doch sein kann, in der man tagtäglich lebt. Wenn du die Bundesstraßen und Autobahnen von oben anhand der Ausfahrten erkennen kannst und breite Straßen zu kleinen Strichen werden – das hat schon etwas Faszinierendes. Spannender finde ich fast die Farbe der Seen: Kleine Seen, gefühlt nicht größer wie Zwei-Euro-Münzen, werden grau mit Silberschimmer, während die großen Seen wie das Meer in türkisblau und grün schimmern, wobei ich der Meinung bin, dass dabei die Sandbänke und Inseln wie ein Korallenriff aussehen.
Es sind diese Gedanken, die mir durch den Kopf schießen, als ich im September letzten Jahres in den Sommerurlaub nach Andalusien fliege. Der zweieinhalb Stunden Flug bis Jerez de la Frontera ist zwar mit Maske auszuhalten, doch mein Kopf ist überhaupt nicht für Urlaub ausgelegt. Meine Gedanken kreisen um einen Freund, der grade sich in der Notaufnahme untersuchen lassen muss – Verdacht auf Bänderriss. Zudem fühl ich mich etwas schlecht, da er seit Beginn seines Studiums nicht mehr im Ausland war und ich gefühlt jedes Jahr wegkomme. Eigentlich wollte ich zurück nach Griechenland. Doch wenn man nichts mehr preislich Passables bekommt, muss man die Lage so nehmen, wie sie kommt.
»Halt jetzt endlich deine Klappe«, brüllt da mein Verstand meinem Hirn zu. Ich schrecke kurz auf. Was ist da los? Dass meine Trias ziemlich gerne diskutiert, hab ich mittlerweile schon mitbekommen. »Um was geht es diesmal?«, frage ich. Mein Herz verdreht die Augen. »Kollege macht sich schon wieder viel zu viel Gedanken.« »Das nennt man Overthinking«, antworte ich, in dem Wissen, dass ich Recht habe. »Das schon«, gibt mein Verstand motzend zurück, »aber sollten wir uns nicht eher auf die acht, neun Tage konzentrieren, die wir nun vor uns haben?« »Mag sein, aber unser Freund ist verletzt…«, gibt mein Herz traurig zu bedenken. »Na und? Du kannst jetzt eh nix dran ändern.« »Aber was ist, wenn wir doch abstürzen und ihn nie wiedersehen?«, heult mein Hirn. In diesen Momenten bin ich froh, dass die Realität zuschlagen kann, denn das Bordbistro kommt.
Die Gipfel der (Schweizer und französischen) Alpen hingegen verschwinden fast vollständig in den Wolken, nur manchmal schimmert die Spitze durch. Wobei Wälder und Felder alle gleich aussehen. Lustigerweise kann ich sehr gut die Freibäder erkennen und einige Pools sehen auch interessant aus…
»Der Schokomuffin ist einfach gut«, merke ich an, während ich das Gebäck mit einem Schwarztee esse. Mein Verstand nickt. Immerhin hat mein Hirn mal Ruhe gegeben, was zu meiner Überraschung mal länger als zwanzig Sekunden andauert. Vielleicht liegts an der Musik, die seit einigen Minuten läuft. Welche Songs passen zu einem Flug über ein Europa, das seit fast schon sechs Monaten einen Krieg auf seinem Land hat? »Egal, schmeiß einfach deinen Liebling rein«, antwortet mein Hirn. Ausnahmsweise soll es recht behalten.
Das alles ist aber nichts wert zu sagen, wenn sich die Wolkendecke über Frankreich bis zum Mittelmeer erstreckt. Das Einzige, was dann noch zu erkennen ist, sind vereinzelte Strukturen der weißgrauen Wattebausche. Gelegentlich spitzt ein Feld durch, aber der weißblasse Schimmer liegt trotzdem schwer über dem Festland. Immer gut zu sehen ist dagegen das, was naheliegt: Die immerzu arbeitende Turbine der Maschine, in der man sich gerade befindet. Diese setzt gerade bei dichter grauer Decke mit ihrer weißen Lackierung und der silbernen Turbinenöffnung geradezu einen Kontrast. Dagegen wirkt der Rest des Flügels schon langweilig…
Während ich meine Biografie weiterschreibe, denk ich an die latente Panik zurück, die ich beim Thema Flugangst verspürt habe. Passiert ist das Ganze nur, weil ich nicht sicher sein konnte, dass meine beiden besten Freunde je davon erfahren. Vielleicht hing im Nachhinein betrachtet das mit dem Umknicken des Fußes des Freundes zusammen. Mich wundert es schon sehr, wie die Trias mich noch zum Fertigpacken zwingen konnte.
Als ich wieder aus dem Fenster schaue, ist die Landmasse längst heller geworden. Die Alpen liegen hinter uns. Während der Süden Frankreichs, die Schweiz und Österreich eher vom tristen Grau des Berggranits mit weißem Schnee geprägt sind, sieht die Landschaft in Spanien echt anders aus. Braune Felder, gelegentlich grün, kaum Wasser. Die Geografie hat deutlich Spuren hinterlassen. Die strenge Kastenstruktur aus dem Süden Deutschlands weicht einer unstrukturierten Agrikultur. Wenn Seen schon aufkreuzen, dann mit türkisblauem Wasser, was mich entfernt an Salzseen erinnert.
»Hoffen wir einfach für ihn, dass nichts Schlimmes ist.« Mit diesen Worten schließt mein altes Herz, das sich teilweise wie Mitte vierzig fühlt, die Diskussion. Mittlerweile muss auch der kleine Zeh eingesehen haben, dass er nicht mehr zurückkann. Er sitzt die nächsten Tage mit mir, Herz, Hirn und Verstand in Andalusien fest, lässt sich die Sonne auf den Pelz brennen. »Und die moderne Kommunikation macht so einiges möglich«, gibt mein Verstand logisch zurück. Da hat der Kollege ausnahmsweise mal recht.
Die Wolken haben sich übrigens großteilig verzogen. Auch lange bevor der Sinkflug einsetzt. Man merkt eben genau, wo sich die Wolken aufhängen. Häuser erkenn ich noch kaum, dafür ist die Maschine, die langsam den Eindruck erweckt, sie würde jeden Moment auseinanderbrechen, noch zu weit oben. Erst eine Viertelstunde später, mittlerweile in Küstennähe, werden die Spuren der Zivilisation sichtbar. Je näher es zum Meer geht, desto dichter wird die Bebauung und Pools und Hotels werden wieder sichtbar. Bald kommt der Flughafen in Sicht – zwar eher eine Schotterpiste, aber wenigstens übersichtlich.
Vielleicht sollte man wirklich versuchen, einen Flug in den Urlaub bewusst zu genießen. Kopf und Herz in eine Einheit bringen und sich mit den Tatsachen, der Realität abfinden. Denn Europa aus der Luft, egal wie man fliegt, ist wunderschön, friedlich, vereint. »Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein«, sang schon Reinhard Mey. Über den Wolken gibt es keinen Krieg, keinen Hass – einfach Frieden und Ruhe. Und das zählt doch auch.
Titelbild: Eigenes Foto vom 08.09.2022