Adrianne Lenker, die Genre-Nomadin
Zu Adrianne Lenkers Musik hat unsere Autorin eine ambivalente Beziehung. Mit der Absicht, die von der Musikerin ausgehende Magie ergründen zu wollen, begibt sie sich kurzerhand auf einen musikalisch-philosophischen Waldspaziergang – und sammelt nebenbei erfrischende Selbst-Erkenntnisse.
von Franziska Leibl
Adrianne Lenkers Indie-Acoustic-Folk, der seit geraumer Zeit seinen Weg in meine Playlists findet, hinterlässt mich ratlos. Zwar taucht mich ihre Musik in eine Märchenwelt mit verwunschenen Wäldern und heimisch duftendem Moos; dennoch erscheinen mir die Lieder der 31-jährigen Amerikanerin an manchen Stellen fremd, ja gar chaotisch und unharmonisch. Es sollte dazu gesagt werden: Ich verfolge das hoch gesteckte Ideal, Songwriter:innen verstehen und ihre musikalischen Schritte beim ersten Hören gar vorhersehen zu wollen. Bei Adrianne Lenker musste ich mir jedoch von Anfang an eingestehen, dass ihre Werke meine Musikalität übersteigen.
So ergreift mich ihre verletzliche, wehklagende Stimme jedes Mal aufs Neue, ohne dass ich weiß, welche musikalischen Griffe sie anwendet. Und so projizieren ihre Gitarren-Riffs immer wieder imaginäre Welten an die Innenseiten meiner geschlossenen Augenlider, ohne dass ich nachvollziehen kann, mit welchen harmonischen Klangfarben sie diese überhaupt malt. Trotz aller Verzauberung – die ich wohl genießen sollte – bleiben seit jeher zwei Fragen in meinem Kopf präsent: Wer ist Adrianne Lenker und was ist ihr Geheimnis?
Das einzige Dach, unter dem sich Singer-Songwriterin Adrianne Lenker laut eigener Aussage nicht eingeengt fühlt, ist das Blätterdach des Waldes. Laute Konzerthallen, in denen Menschen nicht still und aufmerksam der Musik lauschen, widern sie an; vorgefertigte Lebensentwürfe sowie Definitionen und Genre-Korsette langweilen sie; das eintönige, hektische Grau der Städte laugt sie aus.
Die Infos, die ich über Adrianne Lenker gelesen hatte, hallen noch immer in meinem Kopf nach. Auf Spotify gebe ich schließlich ihren Namen in die Suchmaske ein: Ein Bild von einer schmal gebauten, androgyn wirkenden Frau, die inmitten von grünen Farnen sitzt und nachdenklich dreinblickt, ploppt auf. Ich öffne meine Liste mit ausgewählten Liedern von Lenker und drücke schließlich auf Play.
Während ich konzentriert ihrem Song »ingydar« lausche, spaziere ich durch den Wald – meine Sinne sind schnell von der Musik völlig eingenommen und blenden alles andere aus:
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Lenker wächst in einer traditionellen Familie auf, die ihr Leben nach den Vorstellungen einer christlichen Sekte ausrichtet. Schon als Kind kann sie unzählige Umzüge in ihrem jungen Lebenslauf verzeichnen; ein Gefühl von Zuhause? Fehlanzeige. Im Alter von acht Jahren beginnt sie mit dem Songwriting. Die Musik wird von da an zu ihrem persönlichen Ausweg in die Freiheit – einer Freiheit, deren Unbegrenztheit eine Form von Stabilität für sie verkörpert.
Mein Handy spielt mittlerweile Lenkers Song »Angels« ab. Warum ich mit ihrer Musik im Ohr durch den Wald wandele? Ganz einfach: Ihr letztes Album »songs« schrieb sie während eines mehrwöchigen Aufenthalts in einer einsamen Waldhütte – daher habe ich das Gefühl, ihr näher zu kommen zu können, wenn ich ihre Musik bei einem Waldbad analysiere.
Aus meinen Kopfhörern vernehme ich wiederum kurze Stille: Ein Liederwechsel steht an und »anything« erklingt. »I Don’t wanna talk about anyone«. Ich bleibe stehen und frage mich, ob darin wohl Adrianne Lenkers Lebens-Philosophie liegt: Dass sie sich selbst genügt. Dass sie die Einsamkeit schätzt und ihr sturer Gegen-den Strom-Schwimm-Kopf zu wissen scheint, was ihr guttut – und wie sie ihrer Musik Frische und Einzigartigkeit verleiht.
Als Jugendliche krempelt Adrianne Lenker ihr Leben um: Ihre Eltern waren inzwischen geschieden und sie hatte mit 14 bereits ihr Debüt-Album veröffentlicht, als sie sich gegen die Obhut der Eltern stellt und einen High School-Besuch ablehnt. Stattdessen reist sie auf eigene Faust mit einem Van durch das Land. Später holt sie das High-School-Diplom als externe Teilnehmerin nach und erhält prompt ein Stipendium für die angesehene Berklee School of Music, die sie 2012 mit einem Diplom erfolgreich abschloss.
Meine Ohren kommen inzwischen in den Genuss von »symbol«; ich stelle es mir bildlich vor: Adrianne Lenker mit ihrer Gitarre in ihrer Blockhütte im Wald – den Ort, wo sie sich unbeschwert fühlt; unbeschwert genug, um ihre Finger wie Federn im Wind über die Gitarrenseiten schweben zu lassen und sphärische Klänge aus dem Instrument zu erwecken, die in meinem Kopf Schwindel auslösen. Und unbeschwert genug, um mit ihrer sanften, hauchenden Stimme die Musik mit poetischen Worten zu umschmeicheln und mein Herz in eine wohlige Wärme zu hüllen. Der Song hat eine belebende Wirkung auf mich. Ich setze meine Beine schneller in Bewegung und streife im Laufschritt Bäume und Sträucher mit meinen Fingerspitzen – Für einen kurzen Moment fühle ich mich dabei so befreit, dass ich meine ursprüngliche Absicht vergesse: Die Musik verstehen zu wollen. Dann aber fällt mir auf, wie sehr mich die Klänge doch fesseln. Ist es nicht paradox? Wie besessen renne ich beim Erklingen des Liedes los und fühle mich trotz des unsichtbaren Zwanges befreit. Wie ist das möglich? Was genau ist es denn, was mich an dem Song so fasziniert? Ist es die Stimme, der Rhythmus, das vorantreibende Gitarren-Riff, die Harmonik…?
Nach ihrem Studium wechselt Lenker, wie so oft in ihrem Leben, mehrmals die Wohnorte. Dabei trifft sie in New York auf den Gitarristen Buck Meek, den sie bereits aus früheren Studienzeiten kannte. Sie gründen mit zwei weiteren Musikern die Band »Big Thief«, in der Lenker bis heute als Singer-Songwriterin aktiv ist. Zwischen Meek und Lenker funkt es beruflich und privat; sie veröffentlichen zwei Alben als Duo (»a-side« und »b-side«) und heiraten. Die Institution der Ehe war jedoch nicht gemacht für Lenker. Meek und sie trennen sich zwei Jahre später im Guten und sind bis heute enge Freund:innen.
Ratlos bleibe ich stehen, als schon zwei neue Songs in meiner Adrianne Lenker-Playlist anklingen: Zunächst »Jonathan«, ein typischer Kaminabend-Song, und schließlich »I Still Hear You«. Dieser typische Folk-Song wirkt wie ein Trost für meine Perplexität – ist dieses Lied doch in seiner fließenden Struktur und dem melodischen Verlauf sehr traditionell angehaucht und leicht zu begreifen.
Mein Ruhepuls ist nicht von langer Dauer, da »from« erklingt – die repetitiven Worte: »None can be my man, none can be my woman« brennen sich regelrecht in meinem Kopf ein und wühlen mich erneut auf. Orientierungslos suche ich in den Baumkronen Halt und treffe auf schüchterne Sonnenstrahlen, die aus mir vorsichtig ein sanftes Lächeln herauskitzeln. Dazu ertönen gegen Ende des Liedes Klangteppiche heulender Stimmen und ich muss mich ungeduldig davon abhalten, den beklagenden Song nicht zu skippen. Ich entscheide mich gewollt für das Zu-Ende-Hören und habe danach wahrlich das Gefühl, Adrianne Lenker durch ein emotionales Tief begleitet zu haben. Ob es wohl die brutale, ungeschönte Wahrheit – sowohl im Text als auch in den Klängen – ist, die mich an ihr fasziniert und mir manchmal gar unangenehm aufstößt? Weil sie sich traut, sie selbst zu sein, unbequeme Beobachtungen auszusprechen und normierende (Klang-)Korsette völlig ausblendet…?
2018 findet Lenker erneut die Liebe, dieses Mal in der Musikerin Indigo Sparke. Sie outet sich zudem als non-binär. Im Jahr 2020 wird es einsam in Adrianne Lenkers Leben: Die leidenschaftliche Beziehung zu Indigo Sparke geht in die Brüche und die Big-Thief-Tour musste pandemiebedingt abgebrochen werden. In einem Zustand emotionaler Erschöpfung begibt sie sich freiwillig in Isolation und improvisiert täglich für mehrere Stunden in der bereits erwähnten Blockhütte im Wald. Dabei entstehen zwei minimalistische, melancholische Folk-Alben, die sie auch direkt vor Ort aufnimmt. Das Album »instrumental« ist hierbei eine reine Instrumental-Version, in der man Atemzüge, leises Rascheln und Klopfen vernimmt, die ab und an von Windspiel- oder Klangschalen-Klängen und Regentropfenprasseln begleitet werden (Empfehlung: »music for indigo«).
Endlich, »my angel« präsentiert sich meinen Ohren. Es ist der letzte Song ihres aktuellen Albums und einer meiner Lieblinge: Das improvisierende Intro, bei dem man das Gefühl hat, als stimme sich Lenker gerade ein wenig auf der Gitarre mit Modulationen ein. Das schwerfällig beginnende Riff des Songs, das immer im überraschendsten Moment angespielt wird. Und schließlich die unperfekte Aufnahme, voll mit schiefen Tönen, raschelnden Geräuschen und das Klicken am Ende des Songs, gefolgt von Stille: So, als sei das Album lediglich ein Tonband-Notizbuch für spontane Improvisationen. Imperfektion macht eben den Moment zum Momentum und ist damit in sich einzigartig und perfekt.
Seit Ende der Pandemie widmet sich Adrianne Lenker wieder vermehrt ihrer Arbeit in der Band. Momentan, im Jahr 2023, ist sie auf Tournee.
Ich nähere mich dem Waldrand – Mit der Gabelung des Waldweges endet auch meine Reise. Ich setze die Kopfhörer ab und seufze laut. Nachdenklich schlendere ich in Richtung zuhause.
Betrübt stelle ich fest: Manches kann man eben nicht erfassen. Weder mit Worte fassen noch mit Empathie begreifen oder gar mit Verstand ergreifen. Manches bleibt uns eben unergründlich und vielleicht ist das auch gut so. Denn gäbe es keine Magie, nichts Fremdes und nichts Unerwartetes, so wäre das Leben wohl langweilig und eintönig. Vielleicht sollte ich mir an Adrianne Lenker ein Vorbild nehmen und mich von Definitionen weniger beeindrucken lassen, denn sie engen nur ein und grenzen gleichzeitig aus. Ob deshalb wohl manche Stellen in ihren Liedern so unharmonisch in meinen Ohren erklingen: Weil sie meinen gewohnten Hör-Horizonten nicht entsprechen? Weil sie mir meinen begrenzten Blick auf die Welt offenbaren und mich daran erinnern, dass Schönheit und Harmonie eben auch nur Konstrukte und damit Interpretationssachen sind…?
Fragen über Fragen, die es noch zu überdenken gilt – ich drehe kurzentschlossen um, setze die Kopfhörer wieder auf und gehe in Richtung Wald; dabei besingt Lenker erneut: »The symbol of your love is time«. Wie recht sie wohl hat.
Beitrags- und Titelbilder: Sofern nicht anders angegeben eigene Fotos von Franziska Leibl