Polly Jeans mystische Botschaften aus der Hölle
Polly Jean Harvey dichtet mit der Ernsthaftigkeit eines Shakespeare, oder vielleicht doch dem exotischen Bilderreichtum eines Captain Beefheart? Entschleunigt und mit Fokus auf Rhythmus, Melodie und Text entgeht nichts dem empfänglichen Ohr. Die Platte »To Bring You My Love« (1995) schäumt über vor dichtem Storytelling und mystischen Botschaften aus der Hölle.
von Johannes F. Schiller
Stille. Die ersten Gitarren-Riffs kommen aus dem leeren Raum. Schleichend, auflauernd wie ein Gepard, bereit seine Beute zu reißen.
»I was born in the desert / I’ve been down for years / Jesus come closer / I think my time is near«
Bebend. Vibrierend. Betont bedächtig. Jedes Instrument für sich, wobei man dem artistischen Minimalismus frönt. Befehlendes, kehliges und ausgedehntes Johlen, dann überstürzen sich die Vocals in wirbelnden Loops. Jeder muss seine (Helden-)Reise gehen, auch wenn sie über das Äußerste geht, bis ein Ziel in Sicht ist. Ein kosmisches Ringen mit Religion, Natur und Ego. Was tut man nicht für die Liebe, heißt es da: Gott lästern, dem Himmel entsagen, mit dem Teufel schlafen – to bring you my love. Opfergaben, Anstrengung und Blasphemie bis zur Selbstaufgabe. Der Ton für das Album wäre gesetzt. Polly Jean Harvey dichtet mit der Ernsthaftigkeit eines Shakespeare, oder vielleicht doch dem exotischen Bilderreichtum eines Captain Beefheart? Entschleunigt und mit Fokus auf Rhythmus, Melodie und Text entgeht nichts dem empfänglichen Ohr. Genau hinhören ist angesagt.
»Hell ain’t half full / Take me with you«
Track Nummer 3, »Working for the Man«: Harvey flüstert und stöhnt die Vocals im Sprechgesang ganz nah ins Mikrofon – »In the night I look for love / Get my strength from the man above« – und wird nahezu begraben in der dreckigen Bass Line. Ihre Stimme sitzt so tief, dass man annehmen darf, die Aufnahmen unter Wasser waren eine stilistische Entscheidung. Nicht von dieser Welt. Auf der Suche nach dem nächsten Partner: Gott darf an ihrer Seite nicht fehlen, eine Mission höchster Ordnung. Unverblümt und simpel soll es sein, nur schöne Dinge kommen in my car. Bestimmt nicht radiotauglich – an dieser Stelle mehr als nur ein Qualitätsmerkmal –, dafür dankbar hypnotisch.
»In my dreaming / You’ll be drowning«
»Long Snake Moan« überlässt ebenso wenig der Imagination, diesmal eine brachiale akustische Attacke, die Feuerprobe, bevor man in die sumpfigen Tiefen der bekanntesten Single »Down by the Water« hinabgleitet (»Oh help me, Jesus / Come through the storm«). Leicht benebelt von biblischer Motivik, verlorenen, herbeigesehnten Liebhabern und Tochtermord darf man taumeln. Aber wohin eigentlich?
Mit »Send His Love To Me« erreicht das Album seinen wohlverdienten Zenit. Das Motto lautet Wehklage und Herzschmerz auf dem Level existenzieller Verzweiflung (»How long must I suffer? / Dear God, I’ve served my time«), doch das Tempo ist beschwingt rhythmisiert. Fast upbeat. Auf einer Linie mit der Verschmelzung von Blues, Punk und Country, die Nick Cave & The Bad Seeds zum Besten geben.
Untergründige Klangdetails füllen die ansonsten sparsame, dafür umso effektivere Produktion, etwa das Klimpern einer Glocke im Wind zu Beginn von »Teclo«, die unerwartete Trillerpfeife in »Meet ze Monsta«, die einen gellenden Schrei imitiert. Allmählich wird deutlich: Auf ihrem dritten Album wird ein neuer Sound geboren, der für sich alleine steht. Im Zentrum steht nicht mehr die raue Gewalt weiblicher Sexualität als Spiegel männlicher Hybris, die noch Rid of Me (1993) beherrschte, nein – PJ erweitert ihren literarischen Kosmos und übernimmt zeitweise das Alter Ego eines allmächtigen Erzählers (»Gott«?), um etwa Folklore neu zu interpretieren. Im nächsten Moment brummt, tost, haucht und winselt sie mit der Dringlichkeit einer verlorenen Seele, die sich von inneren Dämonen los schreiben muss.
Entsprechend übernimmt Polly eine theatralische Bühnenpersona zu dieser Zeit: Sie karikiert maskuline Posen, ist in femininen Kleidern, pinken Jumpsuits gehüllt und trägt überzogenes Makeup bis zur puren Maskerade. »Es ist diese Kombination aus elegant, lustig und abstoßend zugleich, die mich anspricht. Ich finde es sogar extrem schön, wenn man sich so schminken kann, so verschmiert.«
To Bring You My Love entfaltet sich wie ein komplexer Roman – zwischen Leben und Tod, biblischen Abgründen, Verlust und Leidenschaft, Stoßgebete in den Himmel und einem Pakt mit dem Teufel. Mit einer derartigen apokalyptischen Intensität und klanglich-emotionalen Wucht sang sie danach nie wieder.
Hier eine feine Zusammenstellung diverser Live-Auftritte aus dieser Ära. Zum Einstieg »C’mon Billy« oder »Down by the Water« goutieren, dann langsam vortasten in dunklere Gefilde:
C’mon Billy:
Send His Love To Me:
Beitragsbild: Foto von Travis Yewell auf Unsplash