»Es lebe der Große Bruder« – Die Oper »1984« am Theater Regensburg
George Orwell hat mit »1984« eine Schreckensvision geschaffen, in dem Wahrheit formbar gemacht wird in den Händen eines eigens dafür zuständigen Ministeriums. Gefangen in einem totalitären System wird nicht nur die Vergangenheit ad acta gelegt. Wie sehr das auch heute relevant ist, zeigt die Aufführung im Theater Regensburg.
von Johannes F. Schiller und Yvonne Mikschl
»Ein Stück, was die Welt aktuell braucht.«
Dietlinde Turban-Maazel am 03. Juni 2022 vor der Premiere von »1984«
Aus den großen dystopischen Erzählungen des 20. Jahrhunderts lassen sich immer wieder neue Erkenntnisse gewinnen: vor allen Dingen erschüttert ihre beklemmende Aktualität. Werden in Florida und Texas missliebige Bücher auf den Index gesetzt, in denen es um Gewalt, Rassismus oder Gender geht, erinnert das unweigerlich an Ray Bradburys »Fahrenheit 451«.
Mit »1984« kommt George Orwells Dystopie eines totalitären Überwachungsstaates zum ersten Mal im Theater Regensburg wieder nach Deutschland. Als Oper war es seit der letzten Aufführung 2011 in Valencia in der Welt nicht wieder gespielt worden. Demnach stand bei der Premiere die Frage im Raum, ob das Stück mit der Zeit besser geworden sei und ob die Inszenierung im Theater Regensburg einen neuen Blickwinkel aufwirft, den die Oper zuvor nicht hatte, wie Chefdramaturg Ronny Scholz zuvor in den Raum stellt. Diese Rezension beschäftigt sich mit genau dieser Frage.
Big Brother is watching you
»Man gewöhnt sich daran, allein zu sein.«
Julia in »1984«
Winston (Jan Żądło) ist ein einfacher Parteifunktionär, der im Ministerium für Wahrheit die Vergangenheit nichtig und somit Wahrheit ausradieren soll. Dabei erkennt er bald, dass dadurch auch die Menschlichkeit leidet. Schnell kommt durch sein Tagebuch raus, dass er den Überwachungsstaat, namentlich »Big Brother« zutiefst verhasst. Kurzum: Der Prozess der Geschichtsrevision im Sinne der Angstapparat des »Big Brother«, dessen Bildnis überall prangt, von dessen Existenz aber niemand weiß. Mit Julia (Theodora Varga) findet Winston schließlich eine Verbündete im Kampf gegen den Wahrheitsverlust, doch das Schicksal ihrer Liebe scheint schon besiegelt zu sein.
Die Romanvorlage von George Orwell
Romanvorlage für die Oper ist »Ninety-eighty-four« des 1903 in Bengalien geborenen Autors und Journalisten Eric Arthur Blair, besser bekannt unter seinem Pseudonym George Orwell. Die Utopie, zu der der Erfolgsroman zählt, beschäftigt sich mit der überspitzten Darstellung von totalitären Systemen, die zum Erfahrungshorizont gehören: In den Roman floss sowohl der Erste Weltkrieg als auch seine persönlichen Erfahrungen im Kampf- und Militärdienst in Marrakesch mit ein. Dabei bediente er sich aus seinen anderen Werken und griff dabei Themen wie die Kritik am Kolonialismus, den Kampf um individuelle Freiheit, Totalitarismus versus Individualität, Gesellschaftskritik und Warnung vor der Zukunft wieder auf. Orwell starb an einem Tuberkulosebefall der linken Lunge mit nur 47 Jahren, »1984« war sein letztes Werk.
Eine Utopie als Mahnmal für heutige Zeiten?
„My recent novel is NOT intended as an attack on Socialism or on the British Labour Party (of which I am a supporter) but as a show-up of the perversions to which a centralised economy is liable and which have already been partly realised in Communism and Fascism.”
Orwell in einem Brief 1949
Die Utopie ist Entwurf eines Negativ-Staates auf satirische Weise, die die gegenwärtigen Zustände anzuprangern versucht. Orwell selbst glaubt nicht, dass diese utopische Gesellschaft kommen wird, wie das Zitat oben zeigt, aber etwas Ähnliches in dieser Richtung. Zusätzlich betont er, dass, wenn nicht bekämpft wird, sich der Totalitarismus durchsetzen und überall triumphieren könnte. Die Ironischen Elemente werden durch die Wordbildungen im »Newspeak« und Parolen der Partei deutlich. Interpretationen des Stücks lassen demnach eine Anspielung auf das Dritte Reich oder den Marxismus zu.
»War is Peace – Freedom is Slavery – Ignorance is Strength (Krieg ist Frieden – Freiheit ist Sklaverei – Unwissenheit ist Stärke)«
Der Parteislogan in »1984«
Hauptmotiv des Stücks ist die Suche nach der Wahrheit. Und genau darin liegt die Grundeigenschaft des totalitären Systems: Die Verdrehung von Tatsachen zu Gunsten des Staats oder der regierenden Partei. In »1984« geschieht dies über ein spezielles Verfahren, in gewisser Weise über Gehirnwäsche: Über »newspeak« erfolgt eine radikale Reduzierung des Wortschatzes zur Ausrottung von Gedankenverbrechen, das nur durch die Gedankenpolizei möglich ist – in Realität kann das nur über die Teilnahme funktionieren, denn eine Wortschatzreduzierung kann aus sprachwissenschaftlicher Sicht nur von der Mehrheit der Sprechenden ausgehend sein.
Besonders dramatisch wird die Härte des Systems an den beiden Hauptcharakteren Winston und Julia, deren heimliche Liebesbeziehung schließlich zum Verrat des Anderen führen wird. Glaubt man zunächst Julia, hat das System angeblich als einziges Angst vor der Liebe, was sich als Trugschluss rausstellt, da der Feind wichtiger ist als die Liebe. Darunter leidet auch das Frauenbild: Laut »Anti-Sex League« gehört der Körper der Frauen Big Brother alleine, was auf Enthaltsamkeit rausläuft; Sex sei nur zum Zweck der Fortpflanzung erlaubt. Die passt wie ein Mahnmal zur heutigen Zeit, in der Frauen immer wieder das Recht auf Abtreibung verwehrt wird.
Die Regensburger Inszenierung im Gespräch mit Dietlinde Turban-Maazel
Vor der Premiere der Oper, die die aktuelle Spielzeit »Wahrheiten« beendet, lud das Theater Regensburg zu einem »ungewöhnlichen Anlass«, wie es Chefdramaturg Ronny Scholz bezeichnete, ein: Die Witwe des Komponisten Lorin Maazel, Dietlinde Turban-Maazel, war für die Premiere aus Virginia angereist und stellte sich im Foyer des Neuhaussaals den Fragen der Presse. Ihrer Ansicht nach ist »1984« ein Stück, »das die Welt aktuell braucht«. Im Gespräch erzählte sie unter anderem, dass die Folterszene einem klaustrophobischen Komponieren entstanden sei. Maazels Familie sei auch mit dem Stück gewachsen und aktiv in den Schöpfungsprozess eingebunden worden.
Die Aufführung am Theater Regensburg, so Sebastian Ritschel im Gespräch, begann mit dem Kauf einer DVD im Teneriffa-Urlaub 2008, woraufhin eine Anfrage und Video-Gespräche mit Maazel stattgefunden haben. Die Zusage, das Stück auch wirklich umsetzen zu können, kam laut Ritschel kurz vor Druck des aktuellen Programmheftes.
»Das Stück ist ein Monster.«
Sebastian Ritschel im Gespräch mit Dietlinde Turban-Maazel über die Orchester-Partitur
Maazel erzählt, dass es nach der letzten Aufführung in Valencia 2011 keine weiteren Aufführungsanfragen gegeben hätte. Dies läge an der komplexen Partitur, die sehr anstrengend zu spielen sei. Für Regensburg musste diese somit an ein mittelgroßes Orchester angepasst werden, laut Maazel eine Reduzierung, ohne »die Farben zu verlieren«. Gleichzeitig »resoniert »1984« noch mehr«, da die aktuelle Post-Covid-Zeit und politische Entwicklungen auf die Kürzungen einen enormen Einfluss gehabt hätten. Sie fieberte der Premiere demnach mit »große Vorfreude und Spannung« entgegen, denn sie war bereits von der Haupt- und Generalprobe, die sie in der Vorwoche miterleben durfte, begeistert.
Die Regensburger Inszenierung: Kalt, düster, klanglich offensiv
Der Regensburger Intendant Sebastian Ritschel macht aus Lorin Maazels Vorlage eine Oper, die überwältigt und den Körper konvulsiv zusammenziehen lässt. Orchestral bricht das unbarmherzig, teils unvermittelt wie ein Gewitter herein und hält fast drei Stunden in seinem atemlosen (Würge-)Griff. Er hält sich an die bedrückte Stimmung der Vorlage, alles ist kompakt erzählt, ohne Ausschmückungen – die Story ist ohnehin jedem ein Begriff. Das Bühnenbild ist erwartungsgemäß karg bis steril. Um ein eisernes Käfiggerüst herum bewegen sich uniformierte Gestalten mit blauen Kapuzen. TV-Bildschirme vervielfachen die Propaganda-Botschaften von Oceania. Den Rest übernehmen in regelmäßigen Abständen animierte Newsflashes – über den Stolz der Nation will die Bevölkerung aufgeklärt sein.
Orwells Ursprungsvision aus dem Jahre 1949 mag anders ausgesehen haben, vielleicht etwa wie Terry Gilliams schrullig-kafkaesker Bürokratiealptraum »Brazil« (1985). Doch die entrückte Kälte des blauen Lichts auf der Regensburger Bühne ist weitaus weniger einladend. Das Design ist entmenschlicht, der Raum parzelliert wie in einem hypermodernen Cyber-Gefängnislager. An Leni Riefenstahls Bild-Ästhetik mag man sich erinnert fühlen, wenn sich Menschenmengen in symmetrischer Formierung auf der Bühne versammeln; mittlerweile klassische Bildwelten, die sich rechte Diktaturen zuverlässig angeeignet haben und die spätestens seit »Starship Troopers« (1997) auch im Modus der Gesellschafts-Satire in Erscheinung treten. (Auch dort finden sich Militärpropaganda und Newsflashes im Überfluss, nur deutlich mehr zugespitzt und auf das gekünstelte Niveau des Fernsehformats heruntergebrochen.)
»Alles ist wahr, denn alles ist falsch.«
Winston in »1984«
»1984« aber macht keinen Hehl aus seinem Züchtigungsapparat, den inhumanen Machttechniken. Im Stück fehlt jede Spur von Satire. Es ist von Anfang an klar, worauf diese Ideologie hinausläuft: Erst werden die »Gedankenverbrecher« psychisch gebrochen, daraufhin von gesichtslosen, in weißen Schutzanzügen gekleideten Henkern im »Ministerium für Liebe« gefoltert – Orwell war ein großer Humorist –, um schließlich »geheilt« in den Alltagstrott zurückzukehren. Es lebe der Große Bruder.
Der Saal in Regensburg klatscht einhellig. Manche haben ihn vorzeitig verlassen müssen. Vielleicht aus Angst, diese Nacht nicht mehr schlafen zu können. Leicht verstört, vielmehr geschlagen verlässt man das Theater am Bismarckplatz. Wo bleibt jetzt noch Zeit, die Welt zu verändern?
Infos und Karten: https://www.theaterregensburg.de/produktionen/1984.html?m=15
Trailer zum Stück auf YouTube:
Die Premiere wurde mit einer Pressekarte besucht.
Titelbild: Opernchor und Jan Żądło, Foto Marie Liebig
Beitragsbilder zur Verfügung gestellt vom Theater Regensburg (Pressebereich)