Die Schönheit des Herbsts
Diese, pflegte Marina zu sagen, seien in dieser Phase des Wandels immer am schönsten, denn sie erinnerten einen stets daran, dass selbst der Verlust von etwas Schönem, sich zu etwas Einzigartigem und Prächtigem entwickeln kann. Für mich blieb dieser Blick jedoch immer verborgen, ich sah im Herbst immer nur das Ende des Sommers und der langen Tage, unter der gleißenden Sonne Italiens.
von Alessandro Gebsattel
Wir trafen uns zu einer Zeit in unserem Leben, in der es schien, als hätten wir keinen anderen Platz in dieser Welt, als an der Seite des anderen. Beinahe acht Jahre ist es her, wir waren noch Kinder, doch versprachen wir uns etwas von dem ich mir bis heute noch wünsche, dass es wahr geblieben wäre. Immer zusammen zu bleiben. Dann ist sie mit ihrer Mutter zurück nach Matera gegangen, denn ihre Eltern hatten sich überraschend versöhnt. Doch ihr Glück bedeutete unseren Abschied.
In den folgenden Jahren schrieben wir uns meist wöchentlich. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie ich nach der Schule über die Viale XX Settembre gelaufen bin, voller Hoffnung, ich könnte wieder einen Brief von ihr Zuhause finden. Doch mit der Zeit wurden unsere Briefe immer weniger und die Zeilen immer fremder. Wir erzählten uns von Menschen und Orten, die der andere nicht kannte und schließlich gab es keine Briefe mehr.
Es vergeht keine Woche, in der meine Gedanken nicht zu jenen Jahren zurückwandern, zu Marina und einer Zeit ohne Einsamkeit. In der Sehnsucht für mich nur ein einfaches Wort war, ohne Macht oder Bedeutung und nicht die kalte Leere in meinem Herzen, welche mich seit diesen Tagen begleitete. Mit den ersten Herbstwochen spürte ich diese Leere am heftigsten, denn Marina und ich trafen uns zu dieser Jahreszeit meist täglich im Giardino Pubblico Muzio di Tommasini, um die ersten Färbungen der Bäume wahrzunehmen. Diese, pflegte Marina zu sagen, seien in dieser Phase des Wandels immer am schönsten, denn sie erinnerten einen stets daran, dass selbst der Verlust von etwas Schönem sich zu etwas Einzigartigem und Prächtigem entwickeln kann. Für mich blieb dieser Blick jedoch immer verborgen, ich sah im Herbst immer nur das Ende des Sommers und der langen Tage, unter der gleißenden Sonne Italiens.
Die meisten Tage im Herbst verbrachte ich auf unserer früheren Bank im Giardino Tommasini und dachte an unsere gemeinsame Zeit. Erinnerungen, die in ganz Triest zu finden waren, doch nur von uns beiden entdeckt werden konnten. Wenn es dunkel wurde saß ich noch etwas im verlassenen Park, bis es mir zu kalt wurde. Meine Blicke wanderten immer wieder zu dem alten Briefkasten, dem ich einst meine Zeilen für Marina anvertraut habe. Spürte ich den Mut dafür in mir aufkommen, rannte ich von der Bank bis Nachhause, schlich mich die Treppe hinauf in das Arbeitszimmer meines Vaters, nahm mir Papier und einen alten Füller ganz hinten aus der Schublade heraus und ging in mein Zimmer. Ich knipste die Schreibtischlampe an und setzte mich an den Tisch, überzeugt dieses Mal würde ich den Brief vollenden, ihn in den Briefkasten werfen und Marina endlich sagen, was ich für sie empfinde, schon immer empfunden habe. Doch blieben diese Seiten bis auf wenige leer, auf denen die Worte Liebste Marina geschrieben standen, verwischt durch die Tränen, die mir bei dem Gedanken an sie über das Gesicht liefen. Ich fragte mich dann immer was passieren würde, wenn sie nicht das Gleiche für mich empfände, sich vielleicht nur noch vage an mich erinnert, längst ein anderer an ihrer Seite sitzt, um mit ihr den Anfang des Herbsts zu betrachten. Einen Mann wie ihn sich mein Vater als Sohn gewünscht hätte, der seine Zeit nicht mit Büchern und Geschichten vergeudete, für den es ein leichtes wäre diesen Brief zu verfassen und einfach abzuschicken. Einen Mann, der sich nicht von Ängsten oder Unsicherheiten aufhalten ließe, für den Träume zu Plänen werden. Überzeugt von meinen Gedanken nicht genug für Marina zu sein, es überhaupt niemals gewesen zu sein, zerriss ich die Seiten und schmiss mich auf mein Bett, wo ich nach einiger Zeit unter Erschöpfung einschlief.
Manche Nächte verbrachte ich allein Zuhause in unserer kleinen Bibliothek. Dort lag hinter ein paar Büchern im obersten Regal eine kleine Eichenkiste, gefüllt mit den Briefen, die mir Marina über die Jahre schickte. Ich nahm einen zufälligen Brief heraus, setzte mich auf den alten Ledersessel in der Ecke und begann zu lesen. Für einen Moment hielt ich inne, denn die Nachricht war mit demselben Tag versehen wie heute:
02. Oktober 1957
Liebster Arno,
wie Du weißt, sind es beinahe zwei Monate seit unserem Umzug zurück nach Matera. Um ehrlich zu sein hatte ich bis heute große Schwierigkeiten neue Freunde zu finden und meine alten Freunde von damals habe ich ja so lange nicht mehr gesehen. Auf den Weg in die Schule sah ich immer meine ehemalige beste Freundin, Mia. Du erinnerst dich bestimmt, ich habe dir oft von ihr erzählt. Ich weiß nicht woher, aber heute hatte ich endlich den Mut sie anzusprechen und ich konnte es kaum fassen, auch Mia dachte daran mich anzusprechen, doch wusste auch sie nicht, was sie nach so langer Zeit sagen sollte oder ob wir inzwischen nicht zu verschieden seien. Wir verabredeten uns nach der Schule und verbrachten den gesamten Nachmittag zusammen. Ich erzählte ihr von Dir, von unserem Leben in Triest und das wir eines Tages etwas zu dritt unternehmen werden. Mia will dich unbedingt kennenlernen!
Jedenfalls wollte ich dir nur berichten, was ich heute gelernt habe. Die Angst vor dem ersten Schritt haben oft beide, überwindet man diese und bringt den nötigen Mut auf, so kann daraus etwas wunderschönes entstehen – noch schöner als die Blätter im Herbst. Vergiss das bitte nie!
Alles Liebe
Deine Marina
Ich ließ den Brief in meinen Händen sinken und starrte einige Augenblicke in die spärlich beleuchtete Bibliothek, spürte wie mir langsam Tränen über die Wangen liefen. In Gedanken immer noch bei Marinas Worten. Wenn auch nur die geringste Chance besteht, dass auch Marina Angst vor dem ersten Schritt hat, muss ich jetzt, zum vielleicht ersten Mal in meinem Leben, die Initiative ergreifen.
Die geschwungene Treppe hinunter rannte ich aus der Bibliothek in das Arbeitszimmer meines Vaters. Ich nahm ein Stück Papier und den alten Füller aus der Schublade und setzte mich an den Schreibtisch, denn ich wollte keine Zeit damit verlieren in mein Zimmer zu laufen, zu riskieren diesen Moment zu verpassen. Mit den Worten Liebste Marina begann ich wie bereits unzählige Versuche zuvor, doch hielt ich nicht inne. Der Füller glitt über das Papier. In tiefblauer Tinte formten sich meine Gedanken und Gefühle für Marina, all dies, was ich seit Jahren in mir trug und nie aufzuschreiben vermochte. Ich beendete den Brief mit dem Wunsch sie bald zu besuchen, ihre Antwort genüge und ich säße im nächsten Zug. Ich nahm ein Kuvert aus einer Schublade, versah den Brief mit Marinas nach wie vor vertrauter Adresse und dem nötigen Porto und stürzte mit ihm in Richtung Tür. Ich riss meinen Mantel vom Kleiderständer und schlüpfte hastig in meine Schuhe, ich lief hinaus, ohne auch nur an einen Schlüssel zu denken. Meine Gedanken waren bei diesem Brief, bei Marina und unserem möglichen Wiedersehen.
Es war bereits dunkel, als ich die Straße zum Giardino Tommasini hinunterlief. In dem Licht der Laternen lag der Park in einem bernsteinfarbenem Schein. Doch war ich zu meiner Verwunderung, trotz der späten Stunde, nicht allein. Eine Silhouette zeichnete sich auf der Bank ab an der Marina und ich uns vor so vielen Jahren fast täglich trafen. Ich ging weiter in Richtung des alten Briefkastens, konnte meinen jedoch Blick nicht von der rätselhaften Person lösen. Als ich auf gleicher Höhe angekommen war hielt ich, einem unerklärlichen Gefühl der Vertrautheit folgend inne und sah zu der Gestalt hinüber. Ich sah eine junge Frau, die in diesem Augenblick aufsah. Es war Marina, noch bezaubernder als in jeder meiner Erinnerungen. In diesem Moment spürte ich es, nach so vielen Jahren konnte ich es endlich sehen: Die Schönheit des Herbsts.
Bildquelle: Ehud Neuhaus
Wie wunderschön 🥰 vielen Dank für diese berührende Kurzgeschichte. Jetzt habe ich Sehnsucht nach Italien, junger Liebe – und dem Herbst.