Schreibwerkstatt: »Rücke vor bis auf Los (Ziehe 200 Vorsätze ein)«
Text zum Thema Revolution der Heftausgabe 34. Geschrieben im Rahmen der Schreibwerkstatt an der Uni Regensburg.
von Hannah Bockemühl
Drei, zwei, eins. Auf die Sekunde genau schießen die ersten Raketen in die Luft und erhellen mit ihren strahlend bunten Funken den Nachthimmel. Der erste Tag eines Jahres bedeutet für viele einen Neuanfang. Vorsätze werden gemacht, Ziele festgelegt. Alles soll besser werden. Und wenn es schon gut ist, dann einfach noch eine Stufe mehr. Viele Menschen wollen ihr Leben bewusst tiefgreifend verändern. Probleme des vergangenen Jahres sollen und wollen überwunden werden. Am besten sofort. Wir melden uns im Fitnessstudio an und verzichten auf alles, was uns und unserem Körper nicht guttut. Anstatt auf den Teufel auf unserer linken, hören wir auf den Engel auf unserer rechten Schulter. Außerdem bedeutet das neue Jahr neues Glück. Allerdings nur, wenn wir rote Unterwäsche tragen, einen vierblättrigen Klee und ein Marzipanschwein erhalten, um Mitternacht zwölf Trauben essen, oder junge Männer mit Whiskey, Rosinenbrot und einem Stück Kohle in unser Haus lassen. Wir ziehen über Los und bekommen eine Finanzspritze an Hoffnung. Meistens nimmt uns jedoch unser innerer Schweinehund bald wieder an die Leine. Am Ende des Jahres sitzen wir vor unserer Liste an Vorsätzen, wie vor der Rechnung des Hotels in der Schlossallee. Und wenn die Raketen die Geister des alten Jahres vertreiben, beginnt das gleiche Prozedere wie letztes Jahr. Die kleine alljährliche Revolution gegen uns selbst.
Beitragsbild: Cristian Escobar I Unsplash
In der Schreibwerkstatt verfassen Studierende der Uni bei Prof. Jürgen Daiber Kurzgeschichten und Prosa. Wer Interesse hat, bei der Schreibwerkstatt mitzuwirken, findet auf der Website des Instituts für Germanistik mehr Informationen. Wir veröffentlichen jeweils einen Text pro Semester in unserer Heftausgabe. Weiteren Autor:innen bieten wir eine Plattform auf dieser Website.
