Nichts als Egozentrik und Arroganz? Was wirklich hinter Narzissmus steckt
Narzisst:innen sind die Verkörperung des Bösen schlechthin – so zumindest das Narrativ, das meist in den Medien kreiert wird. Warum diese Wahrnehmung von dem Persönlichkeitszug viel zu oberflächlich ist, erfährst du im Folgenden.
von Anna-Lena Schachtner
Toxisch, gefährlich, psychopathisch: Die Anzahl an Ratgeber-Artikeln und Blogeinträgen, in denen narzisstische Menschen auf diese Weise beschrieben werden, ist in den letzten Jahren inflationär angestiegen. Meist wird dabei der Eindruck erweckt, Narzisst:innen seien der Teufel in Person und müssten schnellstmöglich »enttarnt« werden, um sich vor ihnen zu schützen.
Tatsächlich haben Menschen mit einer stark ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeit eine übertrieben hohe Meinung von sich selbst und fordern von allen anderen, ihnen grenzenlose Bewunderung entgegenzubringen. Ihre Mitmenschen sehen sie nur als Mittel, um ihre Ziele zu erreichen. Außerdem verhalten sie sich häufig herablassend, wirken arrogant und selbstverliebt. Zwar ist die Narzisstische Persönlichkeitsstörung in der neuesten Version der „International Classification of Diseases“ (kurz ICD-11) keine eigenständige Diagnose mehr, sondern fällt unter die allgemeinere Kategorie der Persönlichkeitsstörungen. Dennoch spielt das Konzept des Narzissten bzw. der Narzisstin in der Gesellschaft noch immer eine große Rolle – vermutlich unter anderem deshalb, weil fast jede:r eine Person kennt, auf die die obige Beschreibung zumindest teilweise zutrifft.
Dabei haben Narzisst:innen auch eine ganz andere Seite an sich: In ihrem Inneren zweifeln sie ständig an sich selbst. Erleidet eine narzisstische Person einmal einen Misserfolg, greift das ihr Selbstwertgefühl massiv an und sie empfindet tiefe Scham. Der Grund dafür sind negative Schemata, also Überzeugungen der Betroffenen über sich selbst, die tief in ihrer Psyche verankert sind und unbewusst ihr Verhalten beeinflussen. Narzisst:innen tragen in sich die Annahme, dass sie eigentlich wertlos sind, nichts gut können und keine Anerkennung verdienen.
Quälende Selbstzweifel: Die kritische Stimme aus dem Off
Doch woher stammt dieses negative Selbstbild? Meistens wurde den Betroffenen schon in der Kindheit durch ihre Eltern oder andere Bezugspersonen vermittelt, dass sie Zuneigung nur dann erhalten, wenn sie »abliefern«, also etwa Höchstleistungen in der Schule oder im Sportverein erbringen und sich zu Hause tadellos verhalten. Gleichzeitig sendeten die Eltern verbale oder nonverbale Signale mit der Botschaft: »Eigentlich traue ich dir gar nicht zu, diesen Ansprüchen zu genügen.«
Das grundlegende Bedürfnis nach Anerkennung, das jede:r von uns mehr oder weniger verspürt, wurde bei Narzisst:innen in der Kindheit also nicht erfüllt. Irgendwann haben diese Personen allerdings gelernt, dass sie ihr negatives Selbstbild kompensieren können, indem sie übertrieben positive Annahmen über sich selbst entwickeln. Sie sind etwa zu der Überzeugung gelangt, dass sie begabter, talentierter und wichtiger als alle anderen seien und ihnen daher eine Sonderbehandlung zustehe.
Grundlegend bei der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung ist also, dass die Betroffenen zwei verschiedene Annahmen über die eigene Person gleichzeitig in sich tragen: eine negative, die sich im Laufe ihrer Kindheit entwickelt hat, und eine positive zur Kompensation. Jedoch schwirren die selbstabwertenden Gedanken immer irgendwo in ihrer Psyche herum und treten vor allem dann zutage, wenn die betroffene Person eine Niederlage einstecken muss. Deshalb versuchen Narzisst:innen, ständig erfolgreich zu sein und Bewunderung einzuheimsen, um die kritische innere Stimme zu übertönen. Komplett abschalten können sie sie aber nicht.
Kritik – der wunde Punkt bei Narzisst:innen
Narzisst:innen können sehr charmant und umgänglich sein – solange sie von anderen nicht kritisiert werden. Schlechtes Feedback vertragen sie gar nicht gut, da sie sich dadurch angegriffen fühlen und ihr negatives Selbstbild aktiviert wird. Sie reagieren dann aufbrausend oder sogar aggressiv und versuchen, andere Menschen abzuwerten, damit sie selbst wieder gut dastehen. Auf ihre Kolleg:innen oder Kommiliton:innen sind sie häufig neidisch, da der Erfolg von anderen sie glauben lässt, selbst nicht talentiert und bewunderungswürdig zu sein.
Auch vor engen Beziehungen fürchten sich Narzisst:innen, weil sie unbewusst davon überzeugt sind, der Partner bzw. die Partnerin bewerte einen ständig hinsichtlich der Leistung. Daher »explodieren« sie bei der kleinsten kritischen Anmerkung ihrer Lebensgefährt:innen. Dass ihre Selbstzweifel der wahre Grund sind, warum sie so übertrieben reagieren, ist den Narzisst:innen selbst nicht bewusst.
Der Narzissmus fordert seinen Preis
Wie bei allen Persönlichkeitseigenschaften handelt es sich bei Narzissmus um ein Spektrum. Manche Menschen haben eine leichte Tendenz dazu, andere fast gar nicht. Bis zu einem gewissen Grad kann eine narzisstische Persönlichkeit sogar ein Vorteil sein, da diese Menschen oft zielstrebig sind und deswegen erfolgreich werden. Obwohl Narzissmus meist mit »toxischer Männlichkeit« assoziiert wird und tatsächlich häufiger bei Männern vorkommt, gibt es natürlich auch Frauen mit narzisstischen Tendenzen.
Ab welcher Ausprägung man von einer Persönlichkeitsstörung sprechen kann, ist schwierig zu sagen. Jedenfalls geht eine stark narzisstische Persönlichkeit mit Leidensdruck einher: Viele Narzisst:innen opfern ihre Gesundheit für die Karriere und nehmen sich nicht genug Zeit für ihre Beziehungen. Nicht selten entwickeln sie daher psychosomatische Beschwerden. Meist sind das die Gründe dafür, dass die Betroffenen eine Psychotherapie beginnen – nicht etwa, weil sie ihre Selbstzweifel als das eigentliche Problem erkannt hätten.
Warum Narzisst:innen keine »Monster« sind
Kommt zur Narzisstischen Persönlichkeitsstörung noch eine erhöhte Gewaltbereitschaft oder Impulsivität hinzu, werden Lebensgefährt:innen oder Familienangehörige womöglich zur Zielscheibe von Aggressionen. Wenn die Verhaltensweisen des Narzissten bzw. der Narzisstin tatsächlich zu psychischem oder körperlichem Missbrauch ausarten, ist ein Kontaktabbruch meist die einzige Lösung, um sich vor ihren Verhaltensweisen zu schützen.
Eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung muss aber noch lange nicht heißen, dass die Person verbale oder physische Gewalt anwendet. Viele Narzisst:innen können zwar sehr anstrengend und mitunter abwertend gegenüber anderen sein. Der Grund dafür ist aber nicht etwa eine sadistische Freude am Leid ihrer Mitmenschen. Vielmehr fühlen sich Narzisst:innen sehr schnell durch kritische Äußerungen in ihrem Selbstwert angegriffen und versuchen dann, sich zu verteidigen. Solange sich die narzisstische Person nicht bedroht fühlt, gönnt sie auch anderen Menschen einen Erfolg. Außerdem leiden Narzisst:innen darunter, wenn ihr soziales Umfeld sie aufgrund ihres großspurigen Verhaltens nicht mag.
Es ist also sehr wichtig, Folgendes zu erkennen: Narzisst:innen sind nicht von Grund auf böse, grausam oder psychopathisch.Vielmehr sind sie sehr verletzlich und sehnen sich nach zwischenmenschlicher Anerkennung, die sie nur durch außerordentliche Leistungen zu erhalten glauben.
Durch Psychotherapie eine neue Sicht auf sich selbst gewinnen
Natürlich sollten die selbstabwertenden Schemata nicht als »Entschuldigung« dienen, sich ihren Mitmenschen gegenüber aufbrausend oder herablassend zu verhalten. Wichtig ist, dass die Betroffenen die Ursachen für ihre eigenen Verhaltensweisen erkennen und lernen, weniger empfindlich auf Kritik zu reagieren. Psychotherapeut:innen können den Patient:innen dabei helfen, ihre negativen Schemata zu hinterfragen. Das ist für die Betroffenen nicht einfach, da es sehr schmerzhaft ist, sich ihren Selbstzweifeln zu stellen. Dadurch erkennt die narzisstische Person jedoch auch, dass sie nicht ständig Leistung erbringen muss, um von ihren Mitmenschen akzeptiert zu werden.
Verschwinden wird der Narzissmus einer Person durch die Therapie zwar nicht, da er eben Teil ihrer Persönlichkeit ist. Dennoch können Narzisst:innen lernen, besser mit ihrer Persönlichkeitseigenschaft umzugehen. Somit wird sie zur Stärke und weniger zur Belastung für sich selbst und ihre Mitmenschen.
Beitragsbild: Ketut Subiyanto I Pexels