Ist ein Coming-out in der heutigen Zeit noch notwendig?
Das neue Jahr hat zwar bereits begonnen. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf das alte Jahr zu werfen. Denn 2022 war ein Jahr mit vielen Coming-outs prominenter Persönlichkeiten. Sind solche Coming-outs in der heutigen Zeit überhaupt noch nötig?
von Julian Bichler
Letztens habe ich einen Kommentar in den sozialen Medien gelesen. Der lautete in etwa so: »Wenn schwul sein heute ganz normal ist, wieso muss man sich dann überhaupt outen? Und warum muss man daraus eine Meldung machen?« Eine berechtige Frage. Es gibt darauf eine einfache Antwort: Es ist schade, dass unsere Gesellschaft immer noch nicht an dem Punkt angelangt ist, an dem sich niemand mehr verstellen muss, an dem sich niemand mehr outen muss, an dem sich niemand mehr für seine sexuelle Orientierung rechtfertigen muss. Es geht niemanden etwas an, wie man lebt oder wen man liebt. Aber weil wir immer noch größtenteils in einer heteronormativen Gesellschaft leben, ist es wichtig, dass es eben doch prominente Persönlichkeiten gibt, die mutig sind und offen mit ihrer Sexualität umgehen.
2022 gab es viele mutige Persönlichkeiten, die ein Coming-out hatten. Und diese Personen sind Teil wichtiger gesellschaftlicher Bereiche, in denen es bislang an Vorbildern für die LGBTQ+-Community fehlte.
Wie zum Beispiel die 24-jährige Emilia Fester. Sie sitzt aktuell für die Grünen im Bundestag und hat letztes Jahr anlässlich des Internationalen Tages für bisexuelle Sichtbarkeit ihre eigene Bisexualität öffentlich gemacht. Sie wollte insbesondere darauf aufmerksam machen, dass entgegen der Ansicht vieler Bisexualität keine »Phase« ist oder die Tatsache, dass man sich »einfach nicht entscheiden könne«. Bisexualität ist im Gegenteil ebenso wie Hetero- und Homosexualität eine eigene sexuelle Identität. Mit Tessa Ganserer und Nyke Slawik haben wir seit 2021 im deutschen Bundestag die ersten beiden transgeschlechtlichen Personen. Um es mit den Worten des ehemaligen SPD-Politikers Klaus Wowereit zu sagen: Und das ist auch gut so! Denn der Bundestag ist die parlamentarische Vertretung des Volkes. Und als solche repräsentieren die Abgeordneten die Bevölkerung. In dieser gibt es auch viele queere Personen, die ebenfalls Repräsentant:innen und Identifikationsfiguren benötigen und auch endlich verdient haben. Coming-outs in der Politik sind daher wichtig, damit Vertreterinnen und Vertreter Themen der LGBTQ+-Community ansprechen und diese in politischen Entscheidungsprozessen stärker berücksichtigt werden.
Vor allem im Bereich Sport hat sich im vergangenen Jahr einiges getan. Der 28-Jährige Lucas Krzikalla hat sich als erster deutscher Handballer als schwul geoutet, weitere Handballer aus der ganzen Welt folgten. Der australische Basketballer Isaac Humphries hat sich zu seiner Homosexualität bekannt. Es gab das Coming-out eines bisexuellen Fußball-Kreisliga-Schiedsrichters und des erst zweiten offen homosexuellen FIFA-Schiedsrichters. Die russische Tennisspielerin Darja Kassatkina outete sich als lesbisch. Ein Schwimmer, ein Rugby-Spieler, ein Hockey-Spieler, ein Baseball-Spieler outeten sich ebenfalls. Dies ist ein besonders wichtiges Signal an die Gesellschaft. Besonders der Männersport hat immer noch mit heteronormativen Stereotypen zu kämpfen. Sport sei nur etwas für echte Männer, heißt es oft. Durch das mutige Outing von Sportlerinnen und Sportlern wird der Gesellschaft vor Augen geführt, dass Sport nicht heterosexuellen Personen vorbehalten ist, sondern jede und jeder unabhängig der sexuellen Identität jeglichen Sport treiben kann. Und es wird höchste Zeit, dass dieses Umdenken in der Gesellschaft bezüglich der Akzeptanz queerer Menschen im Profisport stattfindet. Genau solch ein Umdenken kann ein Outing einer berühmten Persönlichkeit bewirken und die Person kann Vorbild für andere sein. Jedes Outing einer berühmten Persönlichkeit ist ein wichtiger Schritt. Einerseits für die Person selbst, andererseits für die gesamte Gesellschaft. Personen, die offen und ehrlich mit ihrer sexuellen Identität umgehen, sind Vorbilder für so viele andere queere Menschen, die sich eben noch nicht trauen, offen über ihre eigene sexuelle Identität zu sprechen. Für jene, die sich vielleicht noch nicht einmal selbst akzeptiert haben. Prominente, die offen und ehrlich mit ihrer sexuellen Identität umgehen, können eine Veränderung der Gesellschaft bewirken. Die Gesellschaft besteht nicht nur aus zwei Geschlechtern und einer sexuellen Orientierung. Die Gesellschaft ist divers, bunt, vielschichtig. Und diese Tatsache muss auch endlich in der breiten Bevölkerung anerkannt werden. Nur wenn es in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen wie Sport, Film und Politik genügend Repräsentation der LGBTQ+-Community gibt, kann ein Umdenken und ein Überdenken der geläufigen Stereotype stattfinden. Bis dahin ist jedes Outing einer prominenten Person wichtig und eine Meldung wert. Auch im Jahr 2023. Wie zum Beispiel das des „Stranger Things“-Stars Noah Schnapp, der sich am 5. Januar als schwul geoutet hat. Willkommen in der Community!
Beitragsbild: Rob Maxwell I Unsplash