Warum wir den Feminismus brauchen – Ein Abend mit Tobias Ginsburg
Am 8. Dezember fand im Ostentorkino in Regensburg eine Lesung von dem deutschen Autor Tobias Ginsburg statt. Darin ging es um sein Buch Die letzten Männer des Westens. Er hielt einen beeindruckenden Vortrag über die Themen seines Buches, wobei Witz, Ironie und der Ernst des Lebens nicht zu kurz kamen. Die Lautschrift Redaktion war dabei:
Von Julia Huber
Ich muss sagen, skeptisch bin ich schon, zu Beginn des Abends. Ich habe Moritz Interview gelesen und den Klappentext des Buchs, darüber hinaus bin ich unvorbereitet. Bewusst.
Bevor die Veranstaltung losgeht, unterhalten Nadine und ich uns darüber, dass wir grundsätzlich Bücher über Feminismus am liebsten von Autorinnen lesen. Natürlich, dieser Typ auf der Bühne will nicht direkt über Feminismus reden, sondern über Männer, toxische Männlichkeit, Parallelrealitäten. Natürlich hat er auch eine Berechtigung dazu, denn er hatte sich persönlich in rechte Netzwerke eingeschleust und jahrelang darüber geforscht. Und doch: Er kündigt früh an, dass er nicht tatsächlich viel aus seinem Buch vorlesen wird, sondern dass er redet. Dass er Appelle hätte. Dass zu Beginn der Veranstaltung die Stimmung noch zu gut sei. Das Publikum ist verunsichert und ist sich nicht sicher, wie ernst er das meint. Seine These zu Beginn ist: Die klare Abgrenzungslinie zu den Rechten, sie existiere nicht.
Und dann redet er auch noch so gut. Je länger er das tut, desto mehr fühle ich mich an die Poetry-Slam-Szene erinnert. Seine Sprachmelodie, seine Pausen, seine Stilmittel: Alles wirkt wie der Ausdruck eines brillanten Rhetorikers. Ginsburg verwendet nicht nur Anaphern, nein, er wählt auch noch solche, die sich metrisch auflösen lassen. Bei ihm wird selbst die Triggerwarnung zu einem Stilmittel: Er baut sie in seine eröffnenden Minuten ein, sagt, es werde um explizite Inhalte gehen. Wenn es zu schwer werde, solle man sich ein Bier holen gehen oder etwas frische Luft schnappen. Ich denke mir: Bezahlt ist ja schon. Doch dann schließt er eine zweite Triggerwarnung an: Die vor den Gendersternchen – er werde gendergerechte Sprache verwenden.
Witze über eine Triggerwarnung fürs Gendern, und das direkt nach einer echten Triggerwarnung, ich weiß nicht… Und tatsächlich wird Ginsburg im Laufe des Abends ein einziges Mal eine gegenderte Formulierung mit Glottisschlag verwenden. Macht das die große Ankündigung zu etwas Performativem? Zur öffentlichkeitswirksamen Aussage: Ich stehe auf der progressiven Seite, ich gendere. Dient das nicht auch der Selbstabgrenzung, der Identitätsbildung? Er sagt, die bürgerliche Mitte ziehe diese künstliche Linie, grenze sich vom Fanatismus ab, und dass das falsch sei. Aber was machen wir dann hier? Das ist meine große Frage: Was ist der Sinn? Was sind die konkreten Appelle? Was können wir besser machen?
Ginsburg berichtet von seinen diversen Undercover-Aktionen. Er erzählt durchaus von situativ komischen Momenten, aber lustig kann man die Stimmung sicher nicht nennen. Im Gegenteil: Je länger er erzählt, desto mehr zieht sich mein Magen etwas zusammen. So nennt er etwa einen Begriff, der in den rechtsextremen Kreisen für Frauen verwendet wird, die mit people of colour schlafen. Mir wird schlecht.
Ginsburg geht auf INCELS ein, eine Bewegung von Männern, die ihr Geschlecht in Alpha-Männer und Beta-Männer einteilen. Frauen würden, laut ihren Ideologien, nur mit den Alpha-Männern schlafen, sie seien grundsätzlich recht böse. Ich denke an einen Bekannten von der Schule von Zuhause, der mir nach dem Corona-Lockdown in erstaunlich viel INCEL-Terminologie erklärt hat, wieso er Single sei.
Ginsburg erzählt von sogenannten Pick-Up-Artists, die anderen Männern vermitteln wollen, wie sie Frauen verführen könnten – auf eine inhärent frauenfeindliche Weise. Ich denke, das letzte Mal, als jemand dachte, er würde durch die Kombination aus Beleidigung und Kompliment irgendwas erreichen, war gestern. Auf dem Heimweg. „Komm rüber, Hübsche. Nutte.“
Ginsburg berichtet, wie er die INCELS und Pick-Up-Artists und Unpolitischen dann plötzlich auf rechtsextremen Veranstaltungen wiederfindet. Denn alles fange eine Stufe vorher an: Bei den frauenfeindlichen Kommentaren im Alltag.
Und ich denke: Das ist eine der schlagenden Erkenntnisse des Abends. Wer hat keine entfernten Verwandten, die frauenfeindliche Witze machen? Rassistische Witze? Ginsburg argumentiert: Rechtsextreme Männer heutzutage würden nicht sagen: »Ich leugne den Holocaust.«. Sie würden sagen: »Also irgendwie geht dieser Feminismus ja langsam schon zu weit.«. Und dann würden sie schauen, wer zustimmt. Und danach würden sie einen Schritt weiter gehen. Und zustimmen, das tun viele. Die starke Ablehnung von Feminismus, von der queeren Bewegung, von sämtlichen gesellschaftlichen Bewegungen, die auf Gleichberechtigung aus sind – diese Ablehnung ist ideologisch. Sie wird geschöpft aus dem gleichen Topf des Gedankenguts, dem die Fanatiker ihre Narrative entnehmen.
Ich frage mich bei Kulturveranstaltungen selten, wann sie um sind. Meistens freue ich mich, wenn es länger geht. Aber hier sind die Gefühle so stark geworden, so überwältigend. Ich möchte raus, ich möchte reflektieren. Ich möchte irgendwie auch heulen. Oder schreien?
Und dann kommen sie doch noch, die konkreten Appelle. Ginsburg kommentiert etwa den Satz »Die Kinder in der Schule lernen ja sowieso schon zu viel über den Nationalsozialismus«. Er sagt, vielleicht stimme das. Vielleicht müsse man sie aber weniger lernen lassen, wann welcher Panzer über welche Grenze gefahren sei und stattdessen unterrichten: Wie haben die Narrative funktioniert? Vielleicht müsse man sie einmal weniger Anne Frank lesen lassen, damit sich Generationen von deutschen Kindern nicht weiterhin mit den Opfern identifizieren, und stattdessen fragen: Was haben unsere Großeltern geglaubt? Denn die hätten auch nicht gesagt: »Ich hasse die Familie Silberstern von nebenan«, sondern dass das mit der Gleichberechtigung langsam doch zu weit gehe. So grundsätzlich und allgemein.
Als er fertig ist, nimmt Ginsburg keine Fragen oder Anmerkungen an. Er verweist auf die anschließende Signierstunde. Nadine und ich gehen. Beide sehr mit den Gefühlen in unseren Mägen beschäftigt, unterhalten wir uns nicht mehr viel. Als wir uns an der trennen, sagt sie: »Schreib mir, wenn du Zuhause bist.«
Deswegen brauchen wir den Feminismus, denke ich in diesem Moment. Weil wir Frauen einander nicht gute Nacht sagen und einfach nach Hause gehen können. Wer gegen den Feminismus ist, hat das nicht verstanden. Damit meine ich nicht die Rechtsextremen, damit meine ich sogenannte ganz normale Menschen. Und wenn diese ganz normalen Menschen die unterschwellige Rhetorik von modernen Rechtsextremen besser nachvollziehen können als feministisches Gedankengut, dann haben wir ein großes Problem. Und wenn man Ginsburg glauben kann, dann ist es schon zu diesem Punkt gekommen.
Ich glaube, dass man ihm glauben kann. Und am Ende des Abends bin ich mir doch sicher, dass es sinnvoll gewesen ist, ihm zuzuhören.
Anmerkung: Dieser Artikel kam zu Stande durch die Lesung von Tobias Ginsburg, die am 8. Dezember im Ostentorkino in Regensburg stattfand. Unsere Autorinnen Nadine Hell und Julia Huber haben die Veranstaltung für euch besucht. Ein weiterer Artikel zu Ginsburg und seinem Buch: https://www.lautschrift.org/2022/12/07/in-ihrem-schaedel-herrscht-kriegszustand/
Die Veranstaltung wurde mit Pressekarten besucht.
Titelfoto: Jean-Marc Turmes