The 1975 und die fremde Sprache des Ungesagten
Gedanken auszutauschen und zu teilen, ist für uns gut und wichtig. Doch manche Gedanken behalten wir auch gerne mal für uns. Durch diese Praxis des Schweigens entsteht eine »Foreign Language«, die nur im Inneren unseres Ichs zum Leben erwacht und die unsere Umwelt selten zu hören bekommt – nämlich das Ungesagte. Die britische Band The 1975 bringt das verstummte Potential ihres persönlichen Ungesagten in ihrem aktuellen Album zum Singen und Klingen – und lädt uns Zuhörer:innen zu einer introspektiven Klangreise ein.
Von Franziska Leibl
Im Schnitt müssen Fans zwei Jahre warten, bis ein neues Album von den experimentierfreudigen The 1975 erscheint – und im Oktober 2022 war es schließlich wieder so weit: Die selbsterklärte »Indie-Alternative-Pop-Rock-Band« hatte einen neuen Sound erarbeitet – »Being Funny In A Foreign Language«. Eines steht dabei fest: Wer sich auf die musikalische Lektüre dieser elf Songs einlässt, wird sich bestimmt nicht langweilen!
Der erste Song »The 1975« reißt den schweren Vorhang aller Erwartungen zur Seite und eröffnet stürmisch die Show: Rhythmisch-mechanische Klavierakkorde geben in überlagerter Form den Beat vor, unter den sich kraftvolle Streicher geschmeidig mischen. Als Hörer:in wird man sofort von diesem prall gefüllten Gesamtklang umhüllt, ja nahezu ergriffen. Die Lyrics, wie gewohnt von Sänger Matty Healy geschrieben, geben einen Bewusstseinsstrom wieder, ergänzt durch kritische Gedanken über das Selbst und den Zeitgeist. Es sind Gedanken, die man zwar eigens für sich wahrnimmt, aber sonst gerne für sich behält. Ein typischer Album-Eröffnungssong der 1975’s.
Es folgt ein nahezu nahtloser Übergang zum nächsten Song »Happiness«. Zuhörer:innen werden in eine Welt heller und vielleicht auch chaotisch wirkender Klänge katapultiert und mit selbstbewussten Riffs überhäuft. Der Text spiegelt dieses Klanggefühl wider: Es geht ums Verliebtsein: »I would go blind just to see you, I’d go far just to have you near«. Gefühlschaos vom Feinsten!
In »Looking For Somebody (To Love)« bleibt der Klangeindruck ähnlich mitreißend und euphorisch, doch gibt der Text bei genauem Hinhören etwas völlig Gegenteiliges wieder: »Should have seen how they ran, when I was looking for somebody to love«. Laut eigenen Aussagen Healys werde in diesem Song die stille und doch laute, mögliche Gedankenwelt und Motivik eines Amokläufers skizziert.
Nach dieser thematischen Parenthese beruhigt sich nun die Musik: »Part of the Band« gleicht sich dem Tempo eines Herzschlags an und malt einen melancholischen Blick gen Himmel. Die Lyrics, unterstrichen von rhythmischen Streicher-Klängen und Klangteppichen, thematisieren eine Selbstreflexion: Wie nehme ich die Welt wahr? Was macht mich aus? Die Erkenntnis am Ende: »It’s kind of my daily iteration«. Dabei scheint es, als hätte das lyrische Ich Frieden mit sich selbst geschlossen.
Während anschließend die Musik in »Oh Caroline« eine leicht nachdenkliche Note besitzt und dessen Lyrics gar bittend oder flehend klingen (»Oh Caroline, I’ll get it right this time«), ist in »I’m In Love With You« davon nichts mehr zu hören: Akustik-Gitarre und E-Gitarre bilden eine belebende Klangbasis, die zum rhythmischen Kopf-Nicken und leichten Schmunzeln einladen und das Liebes-Selbsteingeständnis unterstreichen.
Dass daraufhin eine romantische Liebes-Ballade wie »All I Need To Hear«folgen muss, erscheint selbsterklärend: Ein Bar-Piano, unterstützt von einer schmeichelnden E-Gitarre, kreiert eine gefühlvolle Atmosphäre, in der die Worte »And tell me you love me, that’s all that I need to hear« umso eindrucksvoller erklingen. Hier stört wohl jemanden, dass diese Worte in der Beziehung bisher ungesagt geblieben sind. Doch wer könnte sich nach dem Hören dieser Ballade schon ein »Ich liebe dich« verkneifen?
»Wintering« wirkt nach dem Ausflug in die stickige Bar wie ein kleiner, erfrischender Cut: Es geht um das Heimkommen an Weihnachten, genauer gesagt »on the 23rd«. Darin wird das chaotische Aufeinandertreffen der gesamten Familie ironisch verpackt und neu aufbereitet. Sänger Matty Healy spricht dabei aus, was man sich bei Familien-Feiern von seinen Verwandten höchstens denkt – oder besser denken sollte.
Der nächste Song »Human Too« ist jazzig angehaucht und klingt wie eine bedrückende Erkenntnis nach Weihnachten: Nein, es geht nicht um die Gewichtszunahme nach dem täglichen Plätzchenfrühstück, sondern vielmehr um das tägliche Aufeinanderhocken zweier Liebender. »Don’t you know, that I am human, too? Don’t you know that you’re human, too?« Die rosarote Brille ist fort; man sieht nun seinen zuvor noch angehimmelten Gegenüber, wie er ist: Menschlich und voller Fehler. Auch diese Erkenntnis behält man oftmals wohl für sich – es sei denn, es kommt zu einem Zerwürfnis und man beginnt mit gegenseitigen Vorwürfen…
»About you« legt daraufhin offen, dass es wahrlich zuvor zu einem Streit gekommen sein muss: Psychedelische, lang gezogene E-Gitarrenklänge mit Distorsion-Effekt zeichnen regelrecht das schmerzverzerrte Gesicht des lyrischen Ichs nach. »Do you think I have forgotten about you?« – es gab wohl eine (räumliche) Trennung der beiden. Die Gedanken hier sind eine reuevolle Selbsterkenntnis, dass es ohneeinander wohl kaum geht.
Der letzte Song »When We Are Together« vollendet das Gesamtkunstwerk mit einem klanglichen Happy-End: Harmonische Country-Elemente umschmeicheln und umrahmen das Storytelling, wie die Liebesbeziehung zustande kam und was sie ausmacht. »The only time I might get better is when we are together«. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Worte nun nicht ungesagt bleiben.
Damit ist die kleine Klangreise auch schon zu Ende und man wird wieder sanft in die reale Welt zurückgetragen. Wer dennoch nicht genug hat, kann natürlich das Album rauf und runter hören. Ansonsten seien auch die anderen drei Alben der Band empfohlen! Doch nun wurde schon genug drum herum geschrieben: Am besten verschafft man sich selbst eine Meinung hierzu – und wer weiß, vielleicht wird beim Hören ja eine eigene »Foreign Language« erweckt?
The 1975 – »Being Funny In A Foreign Language«, jetzt anhören!
Titelbild: https://apnews.com/article/the-1975-album-review-b0a3ee26d2f731b367598a6a723b7c21 (© Dirty Hit/Interscope Records)