»Bones and All«: Humanismus im Gewand des Kannibalen
»Bones and All«, Luca Guadagninos eigenwilliger neuer Kinofilm erzählt vom absoluten Außenseitertum und zeichnet ein trostloses Bild vom Amerika der 1980er zwischen Einsamkeit, Obdachlosigkeit und viszeralem Körperhorror. Über Kannibalismus, Coming of Age und zügellose Romantik als Rebellion, allen Widrigkeiten zum Trotz.
von Johannes F. Schiller
Maren (Taylor Russell) hat ein Geheimnis, das keiner kennt außer ihrem Vater (André Holland): Sie ist Kannibalin. Schon in ihrer Kindheit hatte sie sich an der Babysitterin vergangen, wie er ihr später mitteilt, doch davon weiß sie nichts mehr. Für eine Zeit lang scheint alles in Ordnung zu sein, bis auf einer Übernachtungsparty das Drama passiert: Maren kann sich nicht zurückhalten und beißt einer Mitschülerin genüsslich das Fleisch vom Finger. Kurz vor ihrem 18. Geburtstag setzt ihr Vater sie also aus, wohlüberlegt, ihre Triebe schon länger gefürchtet zu haben. Er überlässt ihr die Geburtsurkunde und ein Tonband, auf dem er sich erklärt. Auf ihrem Streifzug quer durch die amerikanischen Bundesstaaten befreundet sie den charismatischen ‚Eater‘ Lee (Timothée Chalamet). Doch nicht alle ‚Eater‘ sind den beiden wohlgesinnt…
Am Ende der Coming-of-Age road
Welten entfernt scheint die italienische Sommeridylle aus Guadagninos »Call Me By Your Name« (2017), die noch so lebensbejahend daherkam. Stattdessen verschlägt es die jugendlichen Protagonisten von «Bones and All» in die amerikanische Provinz; weite majestätische Landschaften des Mittleren Westens kontrastiert mit dem urbanen Verfall der Vorstädte. Es ist ein Amerika ohne konkreten politischen oder zeitlichen Bezug, das dennoch ein missmutiges Bild der Verwahrlosung, von Armut, bitterem Überlebenskampf und einer abgewirtschafteten Nation zeichnet. Eruptive Horrorbilder komplementieren diese Metapher auf drastische Weise: Menschen, die am Körper anderer laben, die den Tod aus der Entfernung riechen können, ihre Opfer in einen Hinterhalt locken oder wehrlose Rentnerinnen überfallen. Kurz: Die dunkelsten Ecken einer Gesellschaft, die sich selbst auffrisst.
Maren und Lee sind outsiders, nicht allein wegen ihrem unstillbaren Hunger auf Menschenfleisch – sie sind obdachlose «Drifters», die von ihren Familien verstoßen wurden und nun ein Leben auf der Straße aufbauen, die sie gleichzeitig ernährt. In dem verzweifelten Versuch, aus ihrer Kindheit einen Sinn zu beziehen, begibt sich Maren auf die Suche nach ihrer verschollenen Mutter. Auch hier muss sie eine Schwelle übertreten und sich dem eigenen Abgrund stellen. Es ist die tragische Vergangenheit, die auf dem Paar lastet, etwas Unbestimmtes, das ihr Handeln bestimmt, sie einzwängt.
Der Fatalismus der Einsamen
Sicherlich hallen darin auch Terrence Malicks erhabene schöne Panoramen der Südstaaten von »Badlands« (1973) wider und die Stilisierung der heimatlosen Außenseiter on the road bei Gus Van Sant. Guadagnino erweist sich als der visuelle Poet, der er schon immer war. Malicks ambivalente Haltung zu seinen mordenden lovers on the run Sissy Spacek und Martin Sheen teilt er allerdings nicht. Er geht weitaus einfühlsamer vor, selbst wenn es ans Äußerste geht. Liebe muss hier bis an die Grenzen des Fleisches nachempfunden werden; mit einem aufrichtigen Humanismus bar jeden Trotzes, der einzig und allein der Jugend vorbehalten ist. Die Jungen müssen sich behaupten gegen eine ältere Generation von «Eatern», definieren sich zu einem gewissen Grad sogar als Widerstand gegen ihre moralische Verkommenheit. Maren und Lee sind die »guten« Kannibalen während der verschrobene Sully (Mark Rylance) eigenen Gesetzen folgt. Seine Figur, ein Nachklang des Western-Genres, ist wie viele andere Eater ein Einzelgänger, eine unheimliche Gestalt, dessen Motivationen nicht berechenbar sind. Was wir außerdem erfahren: Der unbezähmbare Appetit geht unter Umständen so weit, dass in größter Erregung sogar die Knochen verspeist werden, bones and all. Von diesen Abscheulichkeiten grenzen sich die beiden Hauptfiguren entschieden ab. Guadagninos Menschenbild hat damit womöglich einen der interessantesten Punkte seines bezeichnend vielgestaltigen Œuvres erreicht; ein Bewusstsein zu schaffen für die eigene Grausamkeit, derer man nicht entkommen kann. Am Ende bedeutet dies vielleicht sogar die Einsicht der eigenen Ohnmacht.
Nach dem gleichnamigen Roman von Camille DeAngelis. Mit Taylor Russell, Timothée Chalamet, Mark Rylance, André Holland, Chloë Sevigny, Jessica Harper, Anna Cobb.
Beitragsbild: © Warner Bros.