Neurodivers: Nicht psychisch krank, sondern einfach nur anders
Brauchen wir etwa eine »Vielfalt an Gehirnen«? Das zumindest legt der Begriff der »Neurodiversität« nahe, der seit einiger Zeit durch die sozialen Medien geistert. Falls ja, was genau soll das bedeuten? Im Folgenden klären wir, was hinter dem neuen Konzept der Neurodiversität steckt und wie es die Sicht auf Menschen mit bestimmten psychischen Störungen verändern könnte.
von Anna-Lena Schachtner
Meistens werden Personen mit Autismus, ADHS oder auch Lernstörungen wie Legasthenie als »psychisch gestört« bezeichnet. Nach Ansicht der sogenannten »Neurodiversitätsbewegung« ist aber genau das nicht der Fall. Vielmehr hätten diese Menschen nur eine etwas andere, ungewöhnlichere neurologische Architektur als die meisten anderen, neurotypischen Personen. Mit dieser Weltanschauung geht einher, dass die Besonderheiten der neurodiversen Menschen nicht als Behinderung, sondern als Stärken angesehen werden.
Tatsächlich zeigt sich immer mehr: Menschen, die aufgrund ihrer »Störung« anders ticken, können von ihren Eigenheiten auch profitieren. So wollen etwa Personen mit ADHS nicht mehr nur auf ihre Konzentrationsprobleme reduziert werden, da ihr Syndrom auch mit positiven Eigenschaften wie Spontaneität, Kreativität und innerem Antrieb einhergehe. Auch Autist:innen haben zwar einerseits Probleme in der Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen. Andererseits können viele von ihnen streng logisch und analytisch denken. Es gibt sogar eine Firma, die für ihre IT-Dienstleistungen nur autistische Menschen einstellt. Der Grund: Autist:innen seien aufgrund ihrer Fähigkeit, Details und Fehler schnell zu erkennen, für IT-Berufe sehr gut geeignet. »Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem«, so das Motto des Unternehmens auticon.
Die Idee der Neurodiversität lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: Neurodiverse Menschen sehen die Welt mit anderen Augen und bereichern damit unsere Gesellschaft. Jedoch wird das neue Konzept auch von einigen kritisiert – warum?
Nur ein Vorwand, um etwas Besonderes zu sein?
Elon Musk und Greta Thunberg haben vor einiger Zeit verkündet, das sogenannte Asperger-Syndrom zu haben. Dabei handelt es sich um eine leichte Form des Autismus, bei der die Intelligenz normal oder sogar überdurchschnittlich ausgeprägt ist. Angesichts des großen Erfolgs, den diese beiden prominenten Personen haben, fragt man sich womöglich, worin eigentlich deren Beeinträchtigungen bestehen sollen. Greta Thunberg postete ja sogar vor ein paar Jahren auf Instagram, ihr Autismus sei eine Superkraft. Bei so manchem könnte sich der Gedanke aufdrängen: Nutzen diese Leute eine Diagnose und das Label »neurodivers« lediglich als Aushängeschild, um sich als etwas Besonderes darzustellen und sich von den Normalsterblichen, den neurotypischen Menschen, abzugrenzen? Fungiert sie bei einigen auch als eine Art Ausrede, um alle möglichen Schrullen zu entschuldigen und sich nicht an die Gegebenheiten der Mehrheit anpassen zu müssen?
Das allen neurodiversen Menschen zu unterstellen, wäre aber ungerecht. Die Probleme, mit denen sie kämpfen, muss man ihnen nämlich nicht immer anmerken. Bei Vielen bekommt man vielleicht gar nicht mit, dass sie im Gespräch mit Mitmenschen schnell überfordert sind oder sich aufgrund ihres Andersseins einsam fühlen. Fakt ist jedenfalls: ADHS und Autismus sind (zumindest zum Teil) genetisch bedingt. Dass die Psyche von neurodiversen Personen anders aufgebaut ist als beim Rest der Bevölkerung, zeigt sich auch in Form von Auffälligkeiten in ihren Hirnstrukturen. Ihre Schwierigkeiten sind also keinesfalls eingebildet. Diese Erkenntnis führt uns auch schon zu einem weiteren Aspekt der Neurodiversitätsbewegung, den man kritisieren könnte.
Sind neurodiverse Menschen eben doch »krank«?
Durchstöbert man das Internet zum Thema Neurodiversität, stößt man immer wieder auf Forderungen, dass die psychischen Krankheitsbilder gar nicht behandelt werden sollten. Schließlich handele es sich bei ihnen ja nicht um Störungen, sondern nur um Abweichungen von der Norm.
Allerdings werden Diagnosen nicht umsonst gestellt. Wie bereits angedeutet, haben die Betroffenen mitunter große Schwierigkeiten im Alltag. Autist:innen verstehen beispielsweise die Beweggründe anderer Menschen nur schwer oder gar nicht, was ein Hindernis in allen Lebensbereichen darstellt. Außerdem trifft ihr Bedürfnis nach strikter Ordnung und einem durchgetakteten Tagesablauf auf die Realität am Arbeitsplatz oder in der Schule, wo ständig Unvorhergesehenes passiert. Das kann bei den Betroffenen starken Stress auslösen. Es ist auch nicht jeder Autist oder jede Autistin in der Lage, mehrere milliardenschwere Unternehmen zu führen, wie etwa Elon Musk. Neben den normal- und überdurchschnittlich intelligenten autistischen Menschen hat nämlich ein großer Teil der Betroffenen kognitive Einschränkungen oder ist kaum in der Lage zu sprechen. Auch Kinder mit ADHS oder Legasthenie tun sich aufgrund ihrer Beeinträchtigungen in der Schule und beim Lernen mitunter sehr schwer.
Allgemein gilt: Nur mit einer Diagnose übernehmen gesetzliche Krankenkassen die Kosten, die bei einer Therapie anfallen – und eine solche kann den Betroffenen große Erleichterung verschaffen. Dabei muss eine Psychotherapie auch gar nicht das Ziel haben, dass die Patienten lernen, sich immer an ihre neurotypischen Mitmenschen anzupassen. Vielmehr wird geübt, wie sie in alltäglichen Situationen besser mit ihrem Anderssein umgehen.
Warum wir einen positiveren Blick auf neurodiverse Menschen brauchen
Bei aller Begeisterung für die positive Sichtweise der Neurodiversitätsbewegung sollte man also nicht kleinreden, dass Autismus und ADHS durchaus mit Beeinträchtigungen und Leidensdruck einhergehen können. Dennoch ist die Idee der Neurodiversität extrem wichtig, da sie mehr Verständnis für die Besonderheiten neurodiverser Menschen schafft. Schließlich werden diese häufig benachteiligt, etwa bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Darüber hinaus verdeutlicht das neue Konzept, dass neurodiverse Menschen nicht auf ihre Schwächen reduziert werden sollten. Mit ihrer ungewöhnlichen Denkweise und anderen Perspektive auf die Welt bringen sie nämlich mehr Farbe in unsere Gesellschaft. Wir »normalen« Menschen können also eine Menge von ihnen lernen.
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