Wohnsinn-Kolumne: Das Leben der Anderen
Wenn ich erzähle, dass ich in einem Innenhof wohne, ist die Reaktion meist ein freudiges »Oh, da ist es aber bestimmt schön ruhig«. Und das stimmt normalerweise auch. Wenn man aber zur richtigen Zeit hinhört, merkt man, dass Innenhöfe nicht einfach Orte der Ruhe, sondern vor allem der Begegnung und des Austausches sind. Es folgt eine kurze Reflexion über Impressionen aus meinem Innenhof.
von Hannah Eder
Wenn man in einer Stadt lebt, selbst wenn sie so klein und beschaulich ist wie Regensburg, kennt man seine Nachbar:innen selten. Man trifft sich vielleicht im Treppenhaus, erkennt diejenigen wieder, die regelmäßig die Haustür aufhalten oder hat zumindest manche Namen schon einmal auf dem Klingelschild oder einem verlassenen Paket im Hausgang gelesen. Ansonsten bleibt aber jede:r für sich – völlig anonym. Bis zum Sommer.
Denn dann werden wegen der Hitze nach und nach die Fenster aufgerissen. Das Leben der anonymen Nachbar:innen, das große Unbekannte, verschmilzt mit dem was sich in den eigenen vier Wänden abspielt. Gespräche, Musik und Gepolter werden für jeden hörbar und auch wenn man nie die zugehörigen Personen sieht, kennt man irgendwann ihre Stimmen und malt sich kleine Geschichten dazu aus, wer da um einen herum wohnt.
So geht es zumindest mir. Mein Freund und ich leben mitten in der Altstadt in einem kleinen, aber etwas verwinkelten Innenhof. Vor allem gegen Abend arbeite ich dort gerne noch länger am Schreibtisch und öffne das Fenster zum Hof, um etwas kühle Luft hereinzulassen. Wen ich damit gleichzeitig hereinlasse sind die anderen Menschen, deren geöffnete Fenster ebenfalls zum Innenhof hinausblicken. In den drei Jahren, die ich jetzt in Regensburg wohne, war ich dabei unfreiwillige Zeugin von lauten WG-Partys und beschaulichen Kochabenden, von Beziehungskrisen und Versöhnungssex, von ausschweifenden Klavieretüden und dem:r Gitarrenanfänger:in, der am liebsten DJ Ötzis »Ein Stern« spielt.
Da gibt es außerdem die Frau, die den ganzen Tag telefoniert. Man versteht nie ein Wort, aber ihre durchdringende Stimme hat mich schon häufig früh morgens aufgeweckt. Oder die beiden WGs – eine im zweiten und eine im dritten Stock – deren Fenster sich über ein Hauseck fast gegenüber liegen. Im letzten Sommer haben dort zwei junge Frauen, die sich zuvor nicht kannten, zufällig gleichzeitig aus dem Fenster gesehen und spontan einen kurzen Plausch angefangen. Irgendwann sind sie von den obligatorischen Fragen nach dem Studium und dem Heimatort bei ernsteren Gesprächen angekommen. Auch wenn nur kleine Fetzen bei mir ankamen, konnte man hören, dass sich die beiden merkbar sympathisch sind. Auch die Wochen danach habe ich sie immer wieder kurz durch ihre Fenster miteinander sprechen gehört – sehen konnte ich sie aber nie. Vielleicht sind sie heute gute Freundinnen, vielleicht ist eine von ihnen mittlerweile wieder ausgezogen. Was am Ende bleibt ist dieser kurze Augenblick im Innenhof, der Menschen zusammenführt, die so nah aneinander wohnen, sich aber im Alltag ansonsten vermutlich nie begegnen würden.
Man fragt sich natürlich umgekehrt, welche Momente des eigenen Lebens ebenfalls aus der Ein-Zimmer-Wohnung hinaus in den Innenhof entwischt sind. Haben unsere Nachbar:innen auch ein Bild von meinem Freund und mir im Kopf? Sind sie auch abends am Schreibtisch, im Wohnzimmer oder der Küche gesessen und haben unsere Feiern, Streits und Gespräche bruchstückhaft gehört? Wahrscheinlich schon. Und so schräg das vielleicht auf den ersten Blick sein mag – auf diese Weise merkt jede:r, dass man in der Anonymität der Stadt nicht ganz alleine ist.
Mir gefällt dieser zufällige Austausch, durch den sich – wie bei einem Puzzle – nach und nach die Leben hinter den Fenstern der umliegenden Häuser erschließen. Trotzdem gibt es aber auch immer den Moment, an dem man froh ist, das Fenster wieder schließen zu können und die Nachbar:innen einfach mal Nachbar:innen sein zu lassen.
Den nächsten Wohnsinn gibt es kommende Woche dann von Laura.
Beitragsbild: Katerina Pavlyuchkova / Unsplash