Wohnsinn-Kolumne: Ein Inselmärchen für den Sommer
Es ist so weit, der Sommer hat sich blicken lassen. Und was könnte man besser tun, um sich auf den Urlaub vorzubereiten, als sich in kühlen Buchhandlungen nach Trödelwaren umsehen? Wenn ich ein Buch auf Eure Leseliste setzen müsste, würde ich The island of missing trees schreiben, den neuesten Roman der türkischen Autorin Elif Shafak.
von Justine Vonpierre
Im Mittelpunkt des Romans steht die Insel Zypern, ein Heimatland und ein Zuhause, das von zwei Kulturen, zwei Religionen und zwei Völkern geteilt wird und die jeder für sich beansprucht. Der Roman ist ein poetisches Märchen, das die bewegende Geschichte von Kostas und Defne Kazantzakis, zwei jungen Turteltauben im schmerzlich postkolonialen geteilten Zypern erzählt. Sie ist Türkin, er Grieche; sie ist Muslim, er Christ.
Der Roman springt zwischen Zeit und Raum hin und her und ist in drei Erzählungen unterteilt. 2010 lernen wir in London die 16-jährige Ada kennen, die aus dieser verachteten Verbindung hervorgegangen ist. Als Kind mit Migrationshintergrund, das sein Herkunftsland nicht kennt und sich deshalb in England nicht zu Hause fühlt, trägt sie das Trauma der Entwurzelten in sich, dieses Gefühl des »Dazwischen-seins«. Obwohl sie von ihrem Vater behütet wird und ein »British child« sein soll, weiß sie nichts über ihre Herkunft, die Vergangenheit ihrer Eltern und ihr fehlt jegliches Gefühl der Zugehörigkeit.
Zurück auf Zypern im Jahr 1974 führen Defne und Kostas eine heimliche Romanze. Sie treffen sich nachts im Wald oder hinter samtenen Vorhängen in der Taverne »The happy Fig« unter den Blicken der komplizenhaften Besitzer, des Papageis Chico und des grünen Feigenbaums, der in der Mitte der Taverne wächst.
Die letztere (von Kosta wird betont, dass der Feigenbaum weiblich ist) kommt in einem dritten Teil zu Wort. Wie eine große Weise, von Ihrer Taverne bis zum Ende des Londoner Gartens, wo sie von Kosta neu gepflanzt wurde, klärt sie uns über die unausgesprochenen Dinge der Vergangenheit auf: Sie ist Zeugin von menschlicher Gewalt, klärt uns über Moral auf und was wir daraus lernen sollen.
The island of missing trees ist eine sehr poetische Geschichte, in der Liebe und menschliche Gewalt im Namen einer mediterranen Heimat, die jeder gerne sein Eigen nennen würde, sich vermischen. Und doch, wenn Kosta Defne nach den Schuldigen für diese oder jene Gräueltaten fragt, ist die Antwort immer dieselbe: »These men … were they Greek or Turkish?« – »They were islanders, Kosta, just like us.«.
Nächste Woche erwartet Euch dann ein Wohnsinn von Hannah.
Beitragsbild: Justine Vonpierre