Sinfoniekonzert No.6: Pastoral bis beschwingt
Klassische Musik hat unter jungen Menschen einen schlechten Ruf. Diejenigen, die offen zu ihrem musikalischen Geschmack stehen, bekommen sogleich mehrere Stempel aufgedrückt: spießig, altklug, langweilig, ein wenig merkwürdig. Was haben schließlich junge Leute wie wir in einem Publikum, in dem das Haupt größtenteils bereits ergraut ist, schon zu suchen? Doch warum fasziniert uns Musik, deren Komponist:innen schon seit mehreren Jahrhunderten verstorben sind nach wie vor und warum lohnt es sich, dafür ins Theater beziehungsweise Konzerthaus zu gehen?
von My Trinh
Ein Sinfoniekonzert ist weit mehr als das sture Herunterspielen verstaubter Stücke. Vielmehr ergeben die unterschiedlichen Einzelwerke ein komplettes Programm, ein vollständiges Ganzes, kurzum: einen hinreißenden Abend, der in Erinnerung bleiben wird. Das Programm des 6. Sinfoniekonzerts ist raffiniert zusammengestellt. Denn die thematisch ähnlichen Leitmotive finden sich in allen Werken und sogar deren Entstehungsgeschichte wieder: Wett-Kampf, Konflikt und Krieg. In einer steigenden Intensität angeordnet, nehmen die Werke somit an Dauer, Ausführlichkeit und Fülle stetig zu.
Der Einstieg erfolgte durch ein frühromantisches Werk Franz Schuberts. Dieser schrieb neun Ouvertüren, zwei davon im italienischen Stil. Von Welchen die in D-Dur D590, die Premiere des 6. Sinfoniekonzertes im Neuhaussaal des Theater Regensburgs eröffnete. Das knapp zehnminütige Werk kam, wie Liebhäuser erläutert, durch eine Wette zwischen dem jungen Schubert und seinen Begleitern, die nicht aufhören konnten, über Gioachino Rossini zu schwärmen, zustande. In kürzester Zeit solle Schubert also Ouvertüren im ähnlichen Stil komponieren. Auf dem Spiel stand lediglich ein Glas guten Weins, das sich Schubert schließlich mehr als verdient hat.
Das dreiteilige Stück begann tänzerisch, mit lyrischen Melodien. Über den mittleren Teil entwickelte sich ein dynamischer, walzerhaften Charakter. Dieser endete schließlich mit dem lebhaften, energischen Schlusssatz.
Vom ersten Takt an, fällt dabei die Souveränität und das Selbstbewusstsein des Dirigenten und Generalmusikdirektors (seit 1018/19) am Theater Regensburg Chin-Chao Lin auf. Auch wenn sein Gesicht dem Publikum nicht zugewendet sein kann, spricht sein Auftreten Bände. Er gibt nicht nur Anweisungen und den Takt an, sondern verkörpert das, was in der Partitur steht. Er adaptiert den Takt an, wie wenn es sein eigener Puls wäre, passt seine Körpersprache der jeweiligen Stimmung an und haucht der Musik somit Leben ein.
Es folgte das Konzert für Oboe und kleines Orchester von Richard Strauss, welches ohne dem damals 24-jährigen amerikanischen GI John de Lancie heute vermutlich nicht geben würde. Dieser hat vor seinem Militärdienst als Oboist beim Pittsburgh Symphony Orchestra gespielt. Kurz nach dem Ende des zweiten Weltkrieges hatte dieser Lancie Strauss bei einer persönlichen Begegnung in Deutschland gefragt, ob er jemals daran gedacht hätte, ein Konzert für Oboe zu schreiben. Nachdem Strauss dies verneinte, begann er kurze Zeit nach dem Gespräch am neuen spätromantischen Konzert.
Charakteristisch für das Werk sind die geschmeidigen Melodien, die an fließendes Wasser erinnern. Wie Liebhäuser beschreibt, eine Flucht, ein Andenken an eine längst vergangene Zeit vor dem Krieg, welche wie ein Traum vorbeischwebt.
In den Worten der Gastsolistin Juliana Koch, hat »man […] das Gefühl von Wasser, das sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt. Es gibt kein Umkehren, kein Zurück- es bleiben nur Erinnerungen […] Gegen Ende mischt sich also doch einmal Melancholie und Wehmut unter die tänzerischen und spritzigen Klänge dieses einzigartigen Konzerts!«
In ihrem bordeauxrotem, eleganten Kleid und der Oboe, welches in ihren Händen kein Instrument, sondern vielmehr eine Verlängerung des Körpers ist, verwandelt sie es in ein Sprachrohr, durch das die Melodien und Emotionen direkt an das Publikum gelangen. Auch der besondere Oboenklang kommt durch Kochs präzises, makelloses Spiel zum Ausdruck. In ihrer Gestik, Mimik und Körperhaltung spiegeln sich hingebungsvolle Leidenschaft für die Musik, sowie Sehnsucht und Tiefgründigkeit, die ebenso zur Wesensart des Konzerts zählen, wider. In dem etwas über 25 Minuten langen Stück, kommt die Solistenstimme fast durchgehend ohne Unterbrechungen zum Einsatz. Kochs Virtuosität, ausdauernder Atem und ausgeprägter künstlerischer Ausdruck zahlen sich beim Publikum aus, welches erst aufhörte zu applaudieren, als sie zu einem Encore (ein kurzes Stück als Zugabe) ansetzte. Eine englische Humoresque, die in ihrer Kürze dennoch eine ganze Bandbreite an technischen Herausforderungen aufweist. Diese meisterte Koch mit einer solchen Leichtigkeit, dass man sich voll und ganz verzaubern lassen konnte und das Gefühl hatte, ein Streitgespräch, eine Liebeserklärung, einen Witz gleichzeitig zu hören. Sowohl das Oboenkonzert wie auch das Encore, sind foglich Werke, die wie ihre Solistin Wiedererkennungswert haben.
Nach einer kurzen Pause näherte sich der Abend dem Ende zu mit Beethovens 7. Symphonie op. 92. Es ist schwer zu glauben, dass Beethoven zur Zeit der Komposition bereits starke Gehörschwierigkeiten hatte und dennoch zählt jene Symphonie zu einen seiner größten Triumphen überhaupt. Im historischen Hintergrund der Machtausweitung Napoleons in Russland und den beginnenden Befreiungskriegen gegen die napoleonische Vorherrschaft, lässt sich die 7. Symphonie als eine musikalische Rebellion oder Auseinandersetzung verstehen.
Der erste Satz Poco sostenuto – vivace ist lebhaft und abwechslungsreich: auf einen lauten Knall erfolgt im nächsten Moment Stille. Wie eine Vorahnung, auf das, was in der anspruchsvollen Symphonie, in den Befreiungskriegen noch bevorsteht.
Der zweite Satz Alegretto bringt das Gefühl einer düsteren Aufbruchsstimmung hervor. Mit leichter schwebender Hand zeichnet Lin dieses Bild, das schon fast im idyllischen Kontrast zum vorherigen Satz steht. Dennoch spürt man, dass sich die Eskalation langsam andeutet.
Ab dem dritten Satz Presto kann man musikalische Höchstleistung beobachten, sowohl vom Dirigenten als auch jeden einzelnen Musiker. Der explosionsartige, energische Charakter kommt durch den kräftigen Bass und die in hoher Geschwindigkeit gespielten Motive zustande. Ohne langes Zögern erfolgte der direkte Übergang in den vierten und finalen Satz Allegro con brio. Durch Lins vollen Körpereinsatz, kommt des packende und fesselnde Motiv (das einen angenehmen Ohrwurm hinterlässt und von dem man mehr will), sowie die besonderen akustischen Effekte hervor. Die Musik ist so packend, dass Zuhörer:innen auf der Galerie, ihre Köpfe weit hinausragen, um mit allen Sinnen aufmerksam zu folgen. Der Dirigent stampft und wütet, tanzt und hüpft, doch gibt ebenso mit kontrollierten Gesten zu erkennen, sobald andere Nuancen angeschlagen werden müssen, wenn plötzlich aus dem bedrohlichen Marsch ein langsames und leises Schleichen wird. Welches sich stetig zu einem Lauf weiterentwickelt und schließlich zur Ekstase gipfelt. Jeder einzelne Musiker:in schöpft nun hochkonzentriert das volle Potenzial seines jeweiligen Klangkörpers und seines eigenen Könnens heraus. Die Zuhörer:innen sind gebannt, die letzten Takte erklingen – der Niedergang der Napoleonischen Herrschaft steht kurz bevor, der Krieg ist gewonnen (Uraufführung Wien, 08. Dezember 1813) – am 26. Mai 2022 erhebt sich tobender Applaus im Regensburger Neuhaussaal, der noch lange nach dem Ausklang anhält.
Warum also lohnt es sich, klassische Musik live zu erleben?
Worte können nur einen Einblick und eher abstraktes Bild von dem zeichnen, was Musik in uns auslöst. Jede Form von Kunst ist stets ein Spiegel ihrer Zeit. Das 6. Sinfoniekonzert ist eine Reise durch verschiedene Epochen, von der Frühromantik bis in die Wiener Klassik. Themen von gesellschaftlicher, politischer oder persönlicher Relevanz aus der damaligen Zeit werden darin behandelt. Ein weiterer Aspekt ist Originalität, nicht Konservation. Fernab von Synthesizern, aufwendigen Shows Bühneneinlagen mit viel Lichteffekten, ist klassische Musik dahingehend minimalistisch. Denn was hier zählt, ist wahres Talent, eiserne Disziplin, Leidenschaft und Hingabe zur Musik. Nur die besten Musiker:innen schaffen es überhaupt in Konservatorien, von denen noch weniger bekommen eine dauerhafte Stelle im Ensemble bekommen. Daher sollte man jene Menschen würdigen, die sich dazu entschieden haben, ihr Leben der Kunst widmen. Zugleich ist es eine angenehme Realitätsflucht ohne böse Nebenwirkungen. Berauschende Partys, Alkohol- und Drogenexzesse können, müssen aber nicht zum Standardprogramm am Wochenende werden. Wenn man schon prokrastinieren möchte, warum nicht für einen Abend ins Theater gehen, um Komponisten:innen und Werke zu entdecken, die ihren zeitlosen Zauber nie verlieren?
Der fast ausgebuchte Konzertsaal spricht für sich. Wer schon immer einen »akustischen Orgasmus« oder ein »feuriges Spektakel«, wie einige Konzertbesucher:innen ihre Eindrücke schilderten, erleben will, sollte daher nicht zögern, sich Tickets für die zweite Vorstellung am 30. Mai 2022 zu besorgen.
Beitragsbild: Die Solistin des 6. Sinfoniekonzerts Juliana Koch. © Benjamin Ealovega