Wohnsinn-Kolumne: Not driving home for Christmas
In den Instagram-Stories ploppen nacheinander die Bilder aus dem Zug, die Countdowns bis es nach Hause geht und die Szenen aus der elterlichen Weihnachtsstube auf. Währenddessen radle ich zwischen Schreibtisch, Post, Teststelle, Last-Minute-Einkäufen und Sportzentrum hin und her. Richtig: Das Uni-Sportzentrum. Denn für mich geht es zum Fest dieses Jahr (wieder) nicht nach Hause.
von Lotte Nachtmann
Alles in mir zieht sich ein in bisschen zusammen, wenn ich die besagten Instagram-Stories von Freund:innen und Bekannten durchswipe. Der Kloß im Hals wird noch ein bisschen größer. Die Tränen schießen mir heiß in die Augen. Schon wieder. Dieses Gefühl hatte ich doch erst letztes Jahr zu genau derselben Zeit. Letztes Jahr konnte die Tränen abends oft nicht mehr zurückhalten. Es war ja auch das erste Mal für mich, an Weihnachten nicht bei meinen Eltern zu Hause zu sein. Dieses Jahr schluckte ich die Tränen einfach runter. »Reiß dich zusammen. Es gibt Schlimmeres und jetzt vor allem Wichtigeres zu tun, als sich selbst leid zu tun«, schießt es mir durch den Kopf. Und ich lege den Schalter um. Weiter hacke ich in die Tasten meines Laptops. Eine Masterarbeit will geschrieben werden. »Jetzt kann ich dafür ja auch die ganzen Ferien nutzen. Weniger Stress und so«, freue ich mich … fast.
Weniger Stress? Wirklich? Nachdem ich vergangenen Sonntag gemeinschaftlich mit den Eltern beschlossen hatte, meine Bahntickets zu stornieren, bedeutete das erst einmal eine große Hetzerei am Montag. Wie kommt jetzt das Weihnachtsgeschenk (wohlbemerkt zu diesem Zeitpunkt nicht einmal vollständig) zu ihnen unter den Christbaum? Bis wann muss ich es bei der Post abgeben, damit es Heiligabend da ist? Wie organisieren meine quasi-Schwiegermutti und ich das fast vegetarische Last-Minute-Weihnachtsessen? Wann sollen mein Freund und ich einkaufen gehen? Das war nicht mehr geplant. Oh Gott, und testen muss ich mich auch noch. Zwischendrin noch ’ne kleine Booster-Impfung? Sport kann ich ja jetzt auch bis kurz vor der Bescherung machen. Wann macht das Sportzentrum zu? Wie sind die Öffnungszeiten fürs Bouldern an den Feiertagen?
Ich betäube mich selbst mit diesen »heiteren« Gedanken. Renne im Dunst meiner to-do-Liste von A wie Apotheke zu B wie Boulderwelt. Keine Zeit für Tränen. Keine Lust auf Tränen. Der Kloß im Hals löst sich über den Tag hinweg. Ich lasse nicht zu, dass er mir den Atem nimmt. »Tapfer bleiben!«, sagt mein Papa doch immer. Ach Papa, wie gerne hätte ich mit dir meine Masterarbeit diskutiert, oder den Politikteil der SZ-Weihnachtsausgabe. Egal, erstmal weiter zur Metzgerei. Vier Tage vor Heiligabend noch eine Bestellung aufzugeben, ist dann aber doch einfacher als erwartet. Zumindest für die Metzgerei. Ich denke schon daran, wie ich mich überwinden muss. Aber der quasi-Schwiegermutti zuliebe geht das schon einmal im Jahr. Ging ja auch letztes Jahr. Da fällt mir die Liste an vegetarischen Leckereien von Mama ein, mit denen sie mich zu Hause bekochen wollte. Ach Mama … Da ist er wieder, der Kloß im Hals, der dicker und dicker wird. Der Heimweh-Kloß.
Da gibt es aber noch einen anderen Kloß, der Heimweh eindeutig in den Schatten gestellt hätte, wäre ich am Mittwoch in den Zug gestiegen. Und zwar der Angst-Kloß. Angst vor vollen Abteilen, Angst vor Leuten, die es immer noch nicht schaffen, ihre Masken über die Nase zu ziehen, Angst vor ausgefallenen ICEs, Angst vor dem Sardinenbüchsen-Feeling im Ersatzzug, Angst vor der Panikattacke, die mich dann überkommen würde. Zusammengefasst: Wieder einmal die Angst vor Corona, die mich schon letztes Jahr um diese Zeit davon abgehalten hat, zu meinen Eltern zu fahren. Natürlich ist es an jeder Person, für sich selbst zu entscheiden, wie viel Risiko man eingehen möchte, wie viele Leute man zum Fest treffen möchte. Ich möchte mich hier nicht als Moralapostel aufspielen, sondern habe nur für mich entschieden: Das Risiko einer stundenlangen Zugfahrt einmal quer durchs Land ist mir zu groß. Nicht nur wegen Omikron, sondern auch, da ich mich und meine Panik inzwischen kenne. Sie hätte mir schlaflose Nächte vor der Hin- und vor der Rückfahrt beschert. Sie hätte mich zu einem angsterfüllten, verhuschten Reh am Bahnsteig gemacht. Sie hätte sich im vollen Zug wie eine schwere Decke auf mich gelegt. Sie hätte meinen Atem schneller und schneller werden lassen, bis ich ihn nicht mehr kontrollieren kann, bis ich einfach nur noch aus diesem Sch**ß-Abteil kommen will. Sie hätte besorgte und entnervte Blicke meiner Mitfahrenden auf sich gezogen.
Ich muss also ehrlich mit mir sein, wenn sich der Weihnachts-Heimweh-Kloß in meinem Hals breitmacht: Er ist nichts gegen die Panik. Und deshalb geht es weiter: Zwischen Geschenke last minute einpacken, letzten Absprachen über das spontane Weihnachtsmenü und einem so gut wie verwaisten Sportzentrum. Dabei stets auf der Suche nach der Weihnachtsstimmung, die einfach nicht aufkommen möchte. Dafür liegt doch ein zu schwerer Nebel auf allem, was um mich herum passiert. Nicht der dichte, morgendliche Novembernebel, den hier alle kennen. Sondern ein Nebel aus Corona-Sorgen, Heimweh und dem Gefühl, dass vielleicht gerade einfach nicht der richtige Zeitpunkt für Weihnachten ist.
Von diesen Gedanken soll sich allerdings kein:e Leser:in das Weihnachtsfest verderben lassen. Ich hoffe, Ihr könnt es mehr genießen als ich, egal ob bei der Familie, in Regensburg oder sonst wo. Und nach dem Fest meldet sich dann Hannah mit einem letzten Wohnsinn in diesem Jahr.
Beitragsbild: Freestocks | Unsplash