Mov:ement: Zwischen Rache und Gerechtigkeit – Die Netflix-Serie »Jaguar«
Existenzielle normative Fragen nach Gerechtigkeit und Rache kombiniert mit einem Action-Agenten-Plot in atemberaubender Geschwindigkeit verspricht die Netflix-Serie »Jaguar«. Die spanische Produktion, unter der Regie von Carlos Sedes und Jacobo Martínez, glänzt mit fein herausgebildeten Charakteren, Detailliebe und einem Sinn für Tempo.
von Lotte Nachtmann
Rache ist vermutlich eines der stärksten menschlichen Gefühle. Rache kann blind machen; sie kann einen Menschen in den Wahnsinn treiben, völlig einnehmen und brechen lassen. Gerechtigkeit hingegen ließe sich als das Gegenstück zur kontrolllosen Raserei der Rache fassen. Sie sucht den Ausgleich, das rechte Maß.
Mit Isabel (Blanca Suárez) trifft in der Netflix-Serie »Jaguar« das Bedürfnis nach Rache auf das Ziel ausgleichender Gerechtigkeit, das eine Gruppe von vier Agenten verfolgt. Allen gemein ist ihre grauenvolle Vergangenheit: Sie sind direkte oder indirekte Opfer des Nazi-Regimes. Isabel überlebte als kleines Mädchen das Konzentrationslager Mauthausen, in dem ihre Familie ermordet wurde, ihr Vater sogar direkt vor ihren Augen. Sie selbst musste als Dienstmädchen für die Familie des KZ-Leiters arbeiten. Ein dort gern gesehener Gast: der SS-Offizier Otto Bachmann (Stefan Weinert). Isabels tiefste Erinnerung zeigt, wie Bachmann vor ihren Augen des Hungers genüsslich Bonbons lutscht. Seine Figur ist angelehnt an den historischen SS-Mann Otto Skorzeny. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs treffen sich ihre Lebenslinien wieder – im 60er-Jahre-Madrid unter Franco, wo Isabel in einem deutschen Restaurant kellnert. Stammgäst:innen in diesem Restaurant sind untergetauchte Nazis. Isabel plant, auf diesem Wege an Bachmann ranzukommen, um sich für den Tod ihres Vaters und ihrer Familie zu rächen.
Kann es Gerechtigkeit geben in einem Land wie Spanien?
Auch Lucena (Iván Marcos) – Anführer der Agenten-Truppe, die Bachmann und Konsorten ebenfalls auf den Fersen ist – war im KZ, wie die Tätowierung auf seinem Arm verrät. Sein Ziel ist es, die Täter von damals vor Gericht zu bringen, damit den Opfern Gerechtigkeit widerfährt. Dass er dank dieser hehren Ziele irgendwann mit Isabel aneinander geraten würde, schien von Anfang an vorprogrammiert. Denn sie ist der Auffassung, dass die einzige Gerechtigkeit, die die Nazis verdienten, der Tod sei. Erst Recht in einem Land wie Spanien, in dem unter Franco keine Gerechtigkeit zu erwarten sei. Deshalb haben es Lucena und seine Komplizen zunächst auch schwer, Isabel davon zu überzeugen, sich ihrer Sache zu verschreiben. Allein die Tatsache, dass sie sie entführen, um herauszufinden, warum sie so hartnäckig an den Hacken Bachmanns klebt, zeugt von einem zunächst schwierigen Verhältnis zwischen der Rächerin und den Kämpfern für Gerechtigkeit.
Isabel entscheidet sich letztlich aber für Lucena, zu dem sie während der sechs Episoden ein sehr ambivalentes Verhältnis entwickelt. Die hin und wieder angedeuteten romantischen Momente hätte es dafür allerdings nichts gebraucht. Viel aussagekräftiger sind ihre Gespräche darüber, wie sie mit dem Schmerz des Verlustes und den Geistern der Erinnerungen umgehen oder nicht umgehen. Isabel zum Beispiel kann nur auf dem Boden schlafen.
Warum sich Isabel letztlich der Gruppe anschließt, bleibt offen. Immer wieder wird in ihrem Handeln deutlich, dass sie ihr eigentliches Ziel – die persönliche Rache an Bachmann – nie aus den Augen verloren hat. Für die anderen vier ist Bachmann nur ein Mittel zum Zweck. Über ihn wollen sie an noch viel mehr Nazi-Verbrecher:innen rankommen. Dabei stützten sich die Macher der Serie – Ramón Campos und Gema R. Neira – auf die Legende, um ODESSA: die Organisation der ehemaligen/entlassenen SS-Angehörigen. Angeblich soll das reale Vorbild Bachmanns – Otto Skorzeny – diese Organisation kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet haben, um seine Nazi-Kolleg:innen über Spanien und Italien nach Südamerika und damit außerhalb der europäischen Justiz zu verschiffen. In der Serie ist gar die Rede von der Unterstützung durch den Vatikan. Was an ODESSA und Skorzenys Rolle darin dran ist, bleibt historisch allerdings umstritten. Dramaturgisch gibt die Geschichte allerdings einiges her. So ist die Gruppe um Lucena eigentlich an Aribert Heim interessiert. Auch diese Figur orientiert sich frei an einer realen Person. Der echte Heim soll als Lagerarzt im KZ Mauthausen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Der Heim der Serie hat an Isabels Bruder Experimente dazu durchgeführt, wie viel Schmerz ein Mensch ertragen kann. Die Details erspare ich der Leser:innenschaft hier. Isabel hingegen bekommt sie zu hören, als sie und die Agentengruppe, es geschafft haben, Heim zu entführen.
Ein Held, obwohl es keine Held:innen gibt
Nicht nur an dieser Stelle der Serie spielt Blanca Suárez mit erstaunlicher Intensität einen Schmerz, einen Hass und eine rasende Wut, die sie oftmals übermannen. Manchmal gewinnt sie den Kampf und schafft es, ihre Mission – das Vertrauen Bachmanns zu gewinnen – zu erfüllen. Manchmal gewinnen ihre Gefühle. Mitunter zum Leidwesen der ganzen Aktion.
Lucena ist das Gehirn der ganzen Truppe; er schmiedet die Pläne; er hat die Kontakte nach oben, die er stets vormittags in einem Madrilenischen Museum trifft. Miguel Castro (Óscar Casas) ist eher der Mann fürs Grobe: ein junger Bursche, der rennen, kämpfen und schießen kann. Zur Not kann man ihn aber auch als netten Elektriker bei der Frau eines Nazis einschmuggeln. Er ist zu jung, um selbst im KZ gewesen zu sein. Aber Opfer genug durch den Verlust des Vaters. Sein bester Freund ist Sordo (Adrián Lastra), der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, sich um Miguel zu kümmern und ihm den Vater zu ersetzen. Ihm selbst wurde im KZ die Zunge rausgeschnitten. Miguel ist der einzige, der wirklich versteht, was er versucht zu sagen. Deshalb kümmert sich Sordo bei den Einsätzen meist um die technische Komponente: Abhören, Notizen machen, beobachten, Wanzen anbringen. Wenn es darauf ankommt und vor allem wenn es um Miguel geht, ist seine Waffe jedoch auch sofort entriegelt. Wie vielschichtig sein Charakter noch ist, wird in der Serie erklärt. Auch, warum er sich Miguel so verpflichtet fühlt. So viel sei verraten: Es ist eine Wende, die einen daran zweifeln lässt, dass er nur ein Opfer war, aber nicht in Frage stellt, was für ein guter Mensch er ist.
Und dann ist da noch Marsé (Francesc Garrido). Der älteste der vier Männer. Er redet nicht viel, aber auch nicht zu wenig. Er wirkt oft abwesend, aber mit sich im Reinen. Schmunzelt in seinen langen, grauen Bart. Fährt aber immer zum richtigen Zeitpunkt mit einem Fluchtwagen vor. Er war Pfarrer, vor dem Krieg. Jetzt nicht mehr. Die Nazis haben ihm seinen Glauben genommen. Er zeichnet schwarze Kohle-Skizzen in ein Buch – vielleicht eine Bibel – von den ohrenbetäubenden Hunden der SS, von den Skeletten der Ermordeten. »Es gibt keine Wahrheit. Es gibt keinen Gott«, sagt er zu Isabel, »Es gibt nur den Ausdruck des Lebens.« Drei Sätze, die mich als Zuschauerin erschüttert haben. Denn sie deuten an, was die Verbrechen der Nazis angerichtet haben in den Seelen der Opfer. Da ich mir an diesem Punkt nicht anmaßen darf, was Überlebende des Nationalsozialismus fühlen, bleiben diese Worte hier weiter unkommentiert stehen.
Warum verliere ich hier so viele Zeilen über einen Charakter der Serie, der zwar keine Nebenrolle spielt, aber eben auch keine Hauptrolle im Sinne von Isabel und Lucena? Er ist für mich der heimliche Held der ganzen Geschichte. Auch wenn Lucenas Verbindungsfrau sagt, es gebe keine Held:innen, sondern nur die Toten. Aber es gibt nicht nur die Toten, sondern auch die Überlebenden, die Lebenden, die den Tod jeden Tag in sich tragen. So hat auch Marsé keinen Frieden geschlossen mit der Welt, auch wenn er manchmal so wirkt. Sonst würde er schließlich auch keine Jagd auf Bachmann machen. Als er einen Helfer der exilierten Nazis im Wald erschießen soll, bricht all der Schmerz aus ihm heraus. Und er schreit und er betet, für die Seele der Mannes, den er gleich töten wird, für seine Verlorenen, für sich. Francesc Garrido spielt, so meine bescheidene Meinung, den Rest des Casts in Grund und Boden.
Eine Serie, die Tempo kann
Insgesamt kann ich die Serie allen empfehlen, die auf Tempo, Action, Schießereien, zerrissene Charaktere und ein bisschen historischen Kontext stehen. Sehr beeindruckend in Zeiten der Konformität von Streaming-Diensten ist, dass sich die sechs Episoden jeweils so viel Zeit nehmen, wie sie brauchen, um ausgespielt zu werden. Deshalb variieren sie in ihrer Länge zwischen 35 und 55 Minuten. Von diesen ist allerdings kaum eine langweilig. Entweder verleihen sie tiefe Einblicke in die vielschichtigen, sich selbst ausgelieferten Figuren oder sie gipfeln in ekstatischen Verfolgungsszenen und/oder Schießereien. Allein das komikhafte Intro, das eine Hetzjagd zwischen einen Jaguar – wie Isabel irgendwann genannt werden will – und einem Adler – für wen der steht, wissen wir alle – zeigt, gibt schon den Rhythmus an, in dem es weitergeht. Das Höllentempo der Serie fügt sich ein in eine Sechziger-Jahre-Szenerie mit Liebe zum Detail. Allein die Autos und die Musik versetzen die Zusehenden in eine andere Zeit. Eine andere Kritik hebt sogar hervor, dass mancherlei Einstellungen im Stil alter Agentenfilme gedreht wurden. Wer also keine Lust mehr auf James Bond hat, der:die sollte sich dringend »Jaguar« ansehen.
Beitragsbild: Geran de Klerk | Unsplash