Das Kind der Sterne
Eine Kurzgeschichte von Yvonne Mikschl
Sitara wanderte durch den Wald. Schnee und Eis pflasterten ihren Weg durch die Einöde des Landes, für das ihr Vater sein Leben ließ. Hochschwanger fand sie die Höhle, die die Geburtsstätte ihres Sohnes sein sollte. Tief im Wald, weit weg von ihrem Stamm im Dorf. Wie es die Tradition verlangte.
Einige Tage später war er geboren. Und ab dem ersten Moment an das Licht ihres Lebens. Sie sah ihn an, trocknete ihn in ihrem Gewandt und nahm ihn auf ihren Arm. Der Kleine schrie nicht, sondern mit seinem ersten Blick gewann er ihr Herz. Sie drückte ihn und ließ ihn von ihrer Milch trinken. Aurora hatte in ihrer Prophezeiung recht: Er war schöner, als sie es sich je hätte vorstellen können. Drei Tage blieb sie in der Höhle, die ihr Schutz vor der Witterung bot. Der Sturm, durch den sie Tage zuvor gewandert war, hatte sich gelegt. Das massive Eis, der dicke Wald und die schier unendlich scheinende Schneewüste blieben aber. Sie dachte, während sie den Kleinen stillte, immer wieder an den gefallenen Vater zurück. Er wäre so stolz auf sie und sehr erfreut, seinen Sohn zu sehen.
In einer klaren Nacht, fünf Tage nach der Geburt, verließ sie die Höhle auf der Suche nach ihrem Stamm. Nichts weiter als die Decke schützte ihren Sohn vor der Kälte des Winters. Als sie nach einigen Meilen eine Lichtung fand, blickte sie zum Himmel hinauf. Der Sternenhimmel leuchtete in all seinen nächtlichen Farben. Die Kometen schienen auf sie hinabzublicken. Sie formte mit Zeigefinger und Daumen einen kleinen Kreis und sah sich, wie mit einem Fernrohr, die Sterne innerhalb des Kreises an. Dann wechselte ihr Blick auf den Sohn, der auf ihrer Schulter schlief.
Sie nahm ihn in ihre Arme. Der Kleine schlief noch, hatte ein Lächeln auf den leicht im Mondschein glänzenden Lippen. Mit einer Handvoll Schnee rieb sie ihrem Kleinen über die Stirn – ein altes Taufritual in ihrem Stamm, bereits seit Jahrtausenden – und gab ihm damit einen Namen, der seine Bestimmung vorhersah: Sagitarius. Wie es Aurora in ihrer Vorhersehung gesagt hatte: »Nenne dein Kind nach dem Sternbild, das sich nach der fünften Nacht dir zeigt.« Sitara lächelte. Der Name würde zu ihrem Stamm passen, denn er war stark. Und er würde ein besserer Kämpfer werden, als es sein Vater je gewesen war.
Beitragsbild: cocoparisienne | Pixabay