Rausgehen gegen das Austreten
Dieser Text entstand im Rahmen des Kurses »Printjournalismus«, den der ehemalige SZ-Redakteur Rudolf Neumaier im Sommersemester 2021 geleitet hat.
Der katholische Pfarrer Rainer Maria Schießler aus München lehnt sich mit seinen progressiven Ansichten regelmäßig gegen seine Arbeitgeberin auf. Homosexuelle Paare möchte er verheiraten. Mehr als jedes Bibelseminar schätzt er das Münchner Nachtleben. Zwei Tage unterwegs mit einer, auch außerhalb seiner Gemeindegrenzen, aufrüttelnden Persönlichkeit.
von Alexander Karam
Es ist kurz vor elf am ersten Sonntag im Mai. Heute wird der neue Kiosk an der Großhesseloher Brücke im Münchner Süden gesegnet. Gleichzeitig werden Gottesdienst und Muttertag gefeiert. Viel zu tun für den 66-jährigen Rainer Maria Schießler. Der wohl bekannteste Pfarrer Münchens ist für so etwas sofort zur Stelle. Unter freiem Himmel, der für ihn »schönsten Kathedrale der Welt«, zwischen Bratwurstgeruch und Blasmusik verteilt Schießler Torte an die älteste Mutter: »Dreiundsiebzig, zwoundachtzig – wer bietet mehr?«
Vorbeifahrende Radfahrer*innen fühlen sich von dem Trubel angezogen und bleiben stehen. Die oft verklemmte Stimmung bei pandemiebedingtem Sicherheitsabstand weicht ausgelassenem Lachen nach Schießlers Witzen während der Predigt: »Wos städ mid Sicherheitsobstand in da Wüste? A Hygiäne!« Im warmen Frühlingswind flattern über dem Kiosk bunte Flaggen. Ein genauerer Blick zeigt einen Totenkopf über einem Dreizack – Sea Shepherd. Eine US-amerikanische Meeresschutzorganisation, die japanische Walfangboote rammt und versenkt. Auf der anderen Flagge ein Regenbogen – das Pride-Zeichen der LGBTQIA+-Bewegung.
Ein Gottesdienst, so unkonventionell, bunt und lebensfroh
Darunter steht Schießler mit lausbübischen Grinsen nach einem wieder gut angekommenen Witz in bayerischer Mundart. Trotz der sakralen Anmut der Stola wirkt er für seine Zuhörer*innen nahbar. Mehr Leute bleiben stehen. Die ausgelassene Stimmung gleicht der eines Dorffestes. Die vermeintliche Ferne göttlicher Repräsentanz scheint durchbrochen. Ein Gottesdienst so unkonventionell, bunt und lebensfroh. Genau so möchte er es. Dass es mal so kommen wird, war für Schießler nicht immer klar.
Zunächst klassisch startete Schießler in das Pfarrerdasein. Ministrant mit zehn Jahren. Mehrwöchiger Klosteraufenthalt mit 18. Dann Theologiestudium in München und seitdem zölibatär lebend. Neben dem Studium absolviert er seine »Schule des Lebens« – das Taxifahren im Münchner Nachtleben: »In den Menschn hob i mehr vo God kennenglernt ois in jedem Bibelseminar«.
Trotz des Zölibats und der Lebensferne der Bibelseminare bleibt Schießler dabei: »Ich wollte stolz sein für das Unternehmen Kirche und Gott zu arbeiten.« Doch die Ereignisse lassen ihn seine Institution immer mehr hinterfragen: Missbrauchsskandale, Doppelbadewanne von Kirchengeldern und diese schmerzenden Austrittszahlen.
Schießler dachte, wer eine so große Kirche wie die Maximilianskirche nehme, kann nur ein
»Spinner« sein
Nach Stationen in Rosenheim und München-Giesing kommt Schießler schließlich in der Gemeinde Sankt Maximilian an. Mitten in Münchens LGBTQIA+-Szeneviertel – dem Glockenbachviertel. Über diesem erheben sich die zwei mächtigen Glockentürme der Maximilianskirche. Dass er genau hier landet, hat Schießler nicht kommen sehen, er dachte wer eine so große Kirche nehme, kann nur ein »Spinner« sein. Jetzt hat er sie. Mit Dienstwohnung, Pfarrgarten und großem Pfarrhaus direkt nebenan.
Im Pfarrgarten ist Schießler sein eigener Gärtner, das mag auch seine fleischigen Finger erklären. Hecken schneiden, Rasen mähen, Beete umgraben … alles sein Job. Im sterilen Treppenhaus des Pfarrhauses, das wie der Empfangsbereich einer modernen Zahnklinik riecht, wirkt Schießler mit zerzaustem Haar und seinem blauroten Halstuch ein wenig fehl am Platz.
Nach Schießlers routiniertem Aufschließen mehrfach abgeriegelter Türen in einen großen Aufenthaltsraum, wird seine Bezeichnung für diesen Ort als »Kerker der Einsamkeit« spürbar. Große Räume, weiße Wände. Einzelne Kunstwerke als Bilder scheitern kläglich daran, den Räumen Leben einzuhauchen. Nur Menschen könnten diesem Ort die Tristesse nehmen.
Schießlers Büro: eine 20-köpfige Kuscheltierfamilie am Fenster, an der Wand 1860er-Trikots und Oktoberfestposter
Eine Tür weiter Schießlers Büro. Ganz anders als das Treppenhaus und der Vorraum. Auch ohne Menschen fühlt man* sich von Erlebnissen umringt. Eine 20-köpfige Kuscheltierfamilie am Fenster, an der Wand 1860er Trikots und Oktoberfestposter. Auf einem Schrank drei Motorradhelme sorgsam aufgereiht. Nur eine Marienstatue in der Ecke und ein Kruzifix hinter dem rustikalen Holzschreibtisch weisen darauf hin, dass das das Büro eines katholischen Pfarrers ist.
Neben Kästen mit Münchner Lokalbier steht ein Bücherregal, das die gesamte Seitenwand vereinnahmt. Hillary Clintons »Entscheidungen« neben Joseph Maria Lutz‘ »Hundegeschichten«. Biografien mag Schießler besonders gerne, sie seien so lebensnah. Clintons Werk: »Faszinierend.« Die Hundegeschichten begleiten Schießler schon sein Leben lang. »Das lese ich seit meiner Kindheit, darauf greife ich immer wieder zurück«, meint er in Erinnerungen versunken.
Drei Fächer weiter unten das »doofe fromme Zeug« – zu theoretische Predigten aus seinen Anfangsjahren in St. Maximilian: »So könnte ich das heut nicht mehr erzählen.« Gottesdienst muss nahbar sein. Im Vordergrund stehen die Menschen. Das Geistliche ist nur das »drumherum«.
Seine Gemeinde hat die höchsten Eintrittszahlen in ganz München
Das kommt gut an. Seine Gemeinde hat die höchsten Eintrittszahlen in ganz München. Die neuen Mitglieder schätzen ihren Pfarrer. So auch Gisela Ruth (Name geändert). Eigentlich wohnt sie woanders. Trotzdem kommt sie jeden Sonntag durch mehrere Pfarrgemeinden gefahren, um bei Schießlers Messen dabei zu sein.
Bei einer Motorradweihe vor Schießlers Kirche lernt sie ihn kennen. Schießler als begeisterter Motorradfahrer macht so etwas regelmäßig. Auch andere Fahrzeuge und Haustiere bleiben vom Weihwasser nicht verschont. Gisela, zum zweiten Mal verheiratet, hat ihre Daseinsberechtigung in der Kirche schon für verloren geglaubt. »Als ich gesehen habe, dass ein katholischer Pfarrer unter seiner Kutte Motorradkluft anhatte, wusste ich: Da gehörst du hin!«
Bei Schießler sieht sie sich als Teil einer wiedergefundenen katholischen Familie. Die Predigten haben so eine »Alltagsnähe«, man* fühle sich immer angesprochen.
Die ganze Woche über schreibt Schießler seine Predigt für den Sonntagsgottesdient. Immer am Puls der Zeit. Entwicklungen aus der Welt, der Politik, dem Lokalen, dem Persönlichen. Viel Zeit wird investiert: Lanz, Maischberger, arte-Dokus, Zeitungen, das persönliche Gespräch: »Meine Gunda beschwert sich schon, dass ich den ganzen Tag nur vor dem Gerät hock.« Seine Gunda?
Seit 25 Jahren lebt Schießler mit Gunda zusammen – zölibatär
Seit 25 Jahren lebt Schießler mit Gunda zusammen. Zölibatär. Weil er sich das mit Amtsantritt geschworen hat. Wie er dadurch näher bei Gott ist, versteht er nicht. Für ihn soll jeder katholische Priester selbst entscheiden dürfen, ob er das Zölibat einhält oder nicht. Dann gäbe es eigentlich auch keinen Priestermangel: »Es gibt nur einen Weihemangel an neuen Priestern.« Man* müsse nur die Regeln lockern, dann gäbe es genug Anwärter.
Für Schießler ist es nicht fünf vor zwölf, sondern es ist bereits zwölf. Mit der Aufzählung der nötigen Reformen nimmt Schießlers Rhetorik Fahrt auf, die Gestik wird lebhafter: freiwilliger Zölibat, weibliche Priester, eine weniger pompöse Kirche, kirchliche Hochzeit gleichgeschlechtlicher Paare, Heiligsprechen von Protestant*innen wie Sophie Scholl: »Doch darauf kommen diese Sturköpfe nicht.«
Nur folgerichtig, dass er an diesem Wochenende auch an den öffentlichen Segnungen von gleichgeschlechtlichen Paaren von katholischen Priestern teilnehmen sollte: »Nein, da mach ich nicht mit, das ist Instrumentalisierung. Zwei Menschen, die sich lieben sind doch keine Gegenstände.« Leicht greifbar ist Schießler nicht.
Gerade jetzt sollte sich die katholische Kirche die Frage stellen, wie sie lebensnaher werden könnte
Seine Vorstellung von der katholischen Kirche, dem Alltagsglauben und der Bibelauslegung hat er in drei Büchern dargelegt. Alle drei haben es zu Spiegelbestsellern geschafft. Doch jetzt ist mit dem Bücherschreiben erstmal Schluss, denn es gibt viel zu tun: »Die Botschaft des Evangeliums wird immer wichtiger« – besonders wegen der Coronapandemie, von der auch seine Gemeinde schwer getroffen ist: »Die ganze Nähe weg, Kirchenmusikbereich weg, Jugendarbeit weg.«
Die Situation sei wie ein Speerfeuerangriff: »Wenn es vorbei ist, steht man* auf und schaut wer noch da ist.« Gerade jetzt sollte sich die katholische Kirche die Frage stellen, wie sie lebensnaher werden könne, um mehr Menschen im Alltag abzuholen.
Auf die Frage, warum er sich nicht mehr einmischt, schüttelt Schießler nur den Kopf. Kirche wird nicht in der Institution gelebt, sondern in den Gemeinden: »Man* muss mehr rausgehen, nicht mehr reingehen!« Nach Jahren der Auseinandersetzung mit seiner Arbeitgeberin hat er auf das Reingehen keine Lust mehr. Wenn mal wieder die Aufforderung kommt, er solle doch bitte seriöser werden, fällt ihm nur eins ein: »Ich dreh mich um, schüttle den Staub von den Füßen und mach weiter.«
Beitragsbild: © Susie Knoll