Lautstark: Von ehrlicher S.Oliver-Werbung in die »Fickt-Euch-Allee«
Meine musikalische Heimat ist eindeutig Rock. Bedingt vielleicht noch Pop. Ziemlich langweilig, ich weiß. Umso erstaunter bin ich derzeit von den Songs, die mir Spotify als die am meisten gehörten Angehörten anzeigt. Vier dieser momentanen Favoriten möchte ich heute vorstellen.
von Lotte Nachtmann
Aus eigenem Antrieb würde ich nie auf die Idee kommen, Elektropop oder Alternative zu hören. Aber wie es der Zufall so will, läuft einer*m im Alltag ja an jeder Ecke und Kante Musik über die Ohren.
Mein erster aktueller Favorit erreichte meinen Gehörgang in einer S.Oliver-Werbung. Normalerweise nerven die Spots im Fernsehen und auf YouTube ja nur, aber manchmal reißt’s eine*n auch aus dem Dämmerschlaf. Jedenfalls unterlegt »Feels Right« von Jessica Smyth – bekannt als Biig Piig – einen Zusammenschnitt aus Leuten in S.Oliver-Klamotten, die in einem bunt gefliesten Bad tanzen, Torte essen und mit Rosen in der Hand durch eine Straße rennen. Der Spot zeigt aber auch eine Frau, die nach Hause kommt und weinend an ihrer Wand im Flur zu Boden sinkt. Und eine andere Frau, die nach einem langen Arbeitstag völlig erschöpft ins Bett fällt.
Wahrscheinlich gefällt mir allein schon, dass eine Werbung auch einmal Personen zeigt, die nicht nur Friede-Freude-Eierkuchen-mäßig durchs Leben grinsen. Und vor allem, dass das nicht als Scheitern dargestellt ist, sondern als etwas, das sich auch richtig anfühlen kann. »Feels Right« eben. Weinen, völlige Erschöpfung und scheiß Momente im Leben können sich eben genauso richtig (wenn auch nicht gut) anfühlen, wie eine Party-Nacht auf der Straße, in der junge Leute tanzend und lachend ihre Freiheit feiern – so wie es das Musik-Video zeigt. Der Alternative-Song hat einiges an Beat und in der richtigen Abmischung wäre er sicher mehr als Club-geeignet. Dank der Konnotation mit dem S.Oliver-Werbespot höre ich allerdings mehr die melancholischen und trance-artigen Sounds raus. So als würdest du nach eben nach einem so richtigen scheiß Tag noch in den Club gehen und dir die Wut, Trauer oder Erschöpfung aus dem Körper tanzen, ohne dabei happy zu sein; trotzdem fühlt es sich richtig an.
Der zweite Song dieser Liste begleitete das Finale der dritten Staffel der spanischen Serie »Elite«, bei dem die Abschlussklasse einer Eliteschule eigentlich ihr Abitur feiern möchte, stattdessen aber den Mörder ihrer Mitschülerin in den eigenen Reihen findet. Ihre hasserfüllten Blicke im Club passen perfekt zu »Forever« der schottischen Elektropop-Band Chvrches, in dem es heißt: »I told you I would hate you ′til forever«. Ich bekomme bei dem Song ganz eindeutig 1980er-Jahre Synthiepop-Vibes à la Depeche Mode oder Eurythmics. Die eiswasserklare Stimme von Lauren Mayberry ergreift dich und lässt nicht mehr los, bis du nicht mitsingst und mittanzt. Der moderne Synthiepop ist eigentlich gar nicht so mein Ding, aber Chvrches klingt »alt« genug, um mich zu überzeugen.
Next up: Jetzt komme ich zu den beiden Songs, die weniger mit Feiern, Mittanzen und den Party-Träumen der letzten anderthalb Jahre zu tun haben, sondern eher eine »Leckt mich doch alle am Arsch«-Stimmung verbreiten.
Ganz so plakativ kommt die Botschaft in Jules Ahois »Robinson Crusoe« nicht durch. Aber ihr kennt die Geschichte: Schiffbruch, einsame Insel, 28 Jahre Eingeschlossenheit und so weiter und so fort. Jedenfalls alles fernab der New Yorker Heimat und vor allem fernab von nervenden Mitmenschen, wenn man* mal vom späteren Kompagnon Freitag und den Indigenen absieht, zu denen Crusoes Verhältnis allerdings eher angespannt ist. Warum, wieso, weshalb ist es jetzt so ungewöhnlich, dass ich so einen Singer-Songwriter-ich-renne-vor-der-Welt-weg-Song finde und gut finde? Dafür verantwortlich ist vermutlich der Singer-Songwriter, der den Song auf die Bühne bringt. Erfahren von ihm habe ich über die Lokalpresse, aber nicht selbst lesend, sondern selbst nachfragend, bei meinem Praktikum. Es ging um eine Konzertreihe in einem oberbayerischen Kaff. Da stieß ich auf den Namen Jules Ahoi. Irgendwie war ich überzeugt davon, dass es sich dabei um einen fragwürdigen Volksfeststar handle, der seinen Künstlernamen von Ahoi Brause abgeschaut hat. Aber nein, hinter Jules Ahoi steckt kein lederhosentragender bayerischer Bub, sondern ein aus Osnabrück stammender Surfer-Dude, der Musik zwischen Standard-Vinzent-Weiß-Pop und gewissen 1970er Singer-Songwriter-Andeutungen macht. Ersteres ist in meinem Hörportfolio eher selten zu finden, letzteres dafür mehr als genug. Warum, wieso, weshalb finde ich jetzt »Robinson Crusoe« gut? Vermutlich vibet der Song einfach und hat mich im kalten, nassen Corona-Mai auf eine ferne Karibik-Insel katapultiert, auf der mir garantiert niemand näher als 200 Kilometer kommen könnte (sollte reichen, um sich vor dem Virus zu schützen).
Offensiver geht die Berliner Elektopop-Band Grossstadtgeflüster mit ihrem Menschenhass um. Die »Fickt-Euch-Allee« war einfach sehr lange ein Sinnbild für mein Inneres, das einfach von allen Corona-Leugner*innen, Maske-an-Kinn-Träger*innen und sonstigen gesellschaftlich völlig intoleranten Leuten die Nase voll hatte. Obwohl der Song lange vor dem großen C erschienen ist – nämlich 2015 – bin ich dem Chef meines Freundes sehr dankbar für diese Musik-Empfehlung. Denn wenn ihm und jeder*m, die*der den Song so abfeiert wie ich, ähnliche Gedanken durch den Kopf gingen nach einem so langen, beschissenen Corona-Winter, könnte dann ja doch noch Einigkeit darüber entstehen, dass ein weiterer Winter dieser Façon dringend verhindert werden sollte. Ansonsten findet ihr mich ab Herbst dann in besagter »Fickt-Euch-Allee« und hört wahrscheinlich nichts mehr von mir.
Beitragsbild: CBE Cologne