Mov:ement: »Loving Vincent« – Wenn Bilder sprechen lernen
Obwohl die Werke des niederländischen Malers Vincent van Gogh zu den berühmtesten und teuersten der Kunstwelt gehören, wird er nicht unbedingt wegen seiner Technik – die dick aufgetragenen, strahlenden Farben – von vielen Menschen gefeiert, sondern viel mehr für seine Art die Dinge zu sehen: Mit Demut und einer gehörigen Portion Melancholie hielt er nicht nur die oftmals übersehene Schönheit der Natur auf Leinwand fest, sondern verewigte auch die Menschen auf dem Land und in den Städten mit seinen Pinselstrichen. Und obgleich vor allem die Melancholie van Goghs Leben wie ein roter Faden durchzog und er sich in ihr zu seinem Lebensende vollends verstrickte, ist es so viel schöner, sich an das Leben und Genie des Niederländers zu erinnern. Genau das tut der einzigartige Film »Loving Vincent«, wie es wahrscheinlich auch van Gogh begeistert hätte: Er erweckt seine Werke zum Leben.
– von Celina Ford
Die britisch-polnische Koproduktion »Loving Vincent« (2017) ist wirklich einmalig. Und das sind jetzt keine hohlen Lobworte, sondern das ist auch faktisch so. Denn die als Kriminalgeschichte inszenierte Biographie über Vincent van Gogh ist der erste rein gemalte (!) Spielfilm überhaupt: In penibler Detailarbeit wurde jede einzelne Szene Bild für Bild in Öl nachgezeichnet.
Als säße man* unter der »Sternennacht«
Die Technik ist so einfach wie genial: Analog eines normalen Live-Action-Films wurden die Schauspieler*innen (darunter Saoirse Ronan und Douglas Booth) entweder vor einem Greenscreen oder in einem echten Set gefilmt. Das erste Bild der Sequenz wurde daraufhin von einer*m der mehr als 120 engagierten Maler*innen in Vincents post-impressionistischem Stil nachgezeichnet. Von dieser mit Ölfarben angefertigten Kopie wurde dann ein Foto gemacht. Für kleine Veränderungen und das Erzeugen von Dynamik in den nächsten Bildern der Einstellung wurde nicht gleich ein neues Gemälde begonnen, sondern das Anfangsbild leicht verändert und wieder abfotografiert. Da wir hier aber von der Bildfrequenz in einem Film sprechen, summiert sich das dennoch auf 8-12 Einzelbilder pro Sekunde (normal sind 24fps) – und das in einem Spielfilm von über 90 Minuten Laufzeit. Rechnet man* alle angefertigten Bilder zusammen, kommt man* so auf über 65.000 Stück. Das muss man* sich wirklich mal auf der Zunge zergehen lassen. Allein für die Eröffnungssequenz des Films waren mehr als 600 Einzelbilder notwendig. Der Arbeitsaufwand: Drei Maler*innen werkelten 14 Monate lang. Doch das Ergebnis ist es allemal wert.
Nicht nur das weltberühmte Gemälde »Die Sternennacht« wird im Film zum Leben erweckt, sondern über 120 weitere von van Goghs bekanntesten Werken. So tauchen beispielsweise die Bilder »Krähen über Weizenfeld«, »Das Nachtcafé«, »Caféterrasse am Abend« und auch »Der Sämann vor untergehender Sonne« auf. Und obwohl es wunderschön anzusehen ist, wie die Naturgemälde des Niederländers auf der Leinwand ein Eigenleben entwickeln, sind es doch die Porträts, die als Animation das größte Staunen auslösen. Neben vielen vertrauten Personendarstellung spielen vor allem das »Porträt des Briefträgers Joseph Roulin«, der in »An der Schwelle zur Ewigkeit« das Gesicht in den Händen vergrabende Mann, das »Porträt des Dr. Gachet« und der junge Mann, der im »Porträt des Armand Roulin« zu sehen ist – alle Abgebildeten werden zu leibhaftigen Figuren – wichtige Rollen in dieser Krimibiographie. Und letzterer der beiden Roulins ist es, der die Zuschauer*innen an die Hand nimmt und auf eine Reise durch die letzten Monate in Vincent van Goghs Leben mitnimmt.
»Was bin ich in den Augen der meisten Menschen, ein Nichts, ein Niemand.«
Der Film stützt sich auf die über 800 Briefe, die von van Gogh erhalten sind. Vor allem mit seinem Bruder Theo, der ihn auch in seiner Kunst sehr unterstützte, schrieb er häufig – manchmal sogar mehrfach am Tag. Die meisten Menschen kennen die Kurzfassung von van Goghs Leben: Eine semi-glückliche Kindheit, eine rastlose Selbstfindungsphase, die Entdeckung der Liebe für die Malerei, Aufenthalte in der Pariser Künstlerszene, ein abgeschnittenes Ohr, viel Absinth, Aufenthalte in Nervenheilanstalten und schließlich der Suizid durch einen Schuss in die Brust. Und natürlich konnte er kein einziges seiner in den letzten zehn Lebensjahren entstandenen über 800 Gemälde und über 1000 Zeichnungen verkaufen. Doch wie sieht es mit den glücklichen Jahren aus? Wie waren van Goghs Beziehungen zu seinen Mitmenschen? Wie war sein Charakter? Das zu rekonstruieren ist das Anliegen von »Loving Vincent«.
Die fiktive Rahmenhandlung ist wie folgt: Ein Jahr nach dem Tod von van Gogh beauftragt der Postmeister Joseph Roulin seinen Sohn Armand Roulin, einen von Vincents letzten Briefen an seinen Bruder zu überbringen. Zunächst weigert sich Armand, den Brief eines in der Stadt als »Irren« beschimpften und gemiedenen Mannes auszuhändigen. Doch sein Vater, einer der wenigen Freunde Vincents, besteht darauf.
So macht sich Armand auf die Suche nach Theo in Paris. Doch als dieser erfährt, dass van Goghs Bruder nur ein halbes Jahr nach ihm gestorben ist, beschließt Armand, nach Auvers-sur-Oise zu reisen, um mehr über die letzten Monate in Vincents Leben zu erfahren. In Gesprächen mit Adeline Ravoux, der Tochter des Gasthofbesitzers, der van Gogh beherbergte, einem Bootsführer, dem Gendarme Rigaumon, Vincents behandelnden Arzt Dr. Gachet, dessen Tochter Marguerite und seiner Haushälterin Louise Chevalier setzt sich nach und nach ein komplexes Bild zusammen: Manche hielten van Gogh für freundlich und unscheinbar, andere für verhaltensauffällig, wieder andere für manisch-depressiv und manche sogar für gefährlich. Doch wie seinem Vater erscheint es Armand immer schwerer nachzuvollziehen, dass Vincent wirklich Selbstmord beging. Er stellt die Theorie auf, dass René Secretan, ein Junge, der Vincent oft schikanierte, den Künstler aus Versehen erschoss und dieser es selbst als Suizid vertuschen wollte. Doch Dr. Gachet erklärt Armand, dass van Gogh vermutlich Selbstmord beging, um seinem kranken Bruder, der nicht nur für die eigene Familie, sondern auch für Vincent finanziell aufkam, dadurch zu entlasten. Der Arzt verspricht ihm, den Brief an Theos Witwe Johanna auszuhändigen und somit Armands Mission zu erfüllen.
Einige Zeit später erhält der Postmeister Roulin einen Brief von Theos Witwe. Diesem liegt ein weiterer Brief van Goghs an die Frau seines Bruders bei, der mit »Your loving Vincent« endet – der titelgebenden Grußformel.
Obwohl »Loving Vincent« als Biographie mit Krimianleihen aufgemacht ist und es schafft, auf eine ungewöhnliche Art und Weise mithilfe einer fiktiven Handlung und van Goghs Briefen dessen letzte Monate zu rekonstruieren, geht es in erster Linie nicht darum zu klären, ob Vincent wirklich an einer selbst zugeführten Schussverletzung starb oder ob er nicht doch aus Versehen erschossen wurde. Stattdessen ist »Loving Vincent« eine Lektion in Mitgefühl, Liebe für die Kunst und – allen voran – ein filmisches Meisterwerk.
Titelbild: © Rai