Wohnsinn-Kolumne: Der Lebensraum als gelebte Erfahrung
Im Zuge der Ausgangsperre ist die Reise ein Leitmotiv geworden. Wir wiederholen in alle Richtungen, dass wir unsere eigene Bude oder unser Zimmer nicht mehr ertragen können. Und doch zeigte uns die Pandemie, was für ein Luxus es ist, über eine Bleibe zu verfügen, einen privaten Raum, der uns schützt und in dem wir uns wohlfühlen. Laut G. Bachelard in Poetik des Raums (2005) erzählt das Haus eine Intimsphäre, eine individuelle und soziale Geschichte und eine Welt, die jeder*m zu eigen ist. Doch wie wird aus einem unscheinbaren Haus ein »Zuhause«?
von Justine Vonpierre
Das zukünftige Zuhause zum ersten Mal zu betreten, bedeutet paradoxerweise, zurückhaltend und erwartungsvoll in ans Tageslicht gebrachte Räume zu blicken. Manchmal gefällt es einem nicht auf den ersten Blick. Ich erinnere mich daran, dass ich, als ich zehn Jahre alt war, heiße Tränen vergoss, als ich die neue Wohnung sah, die ich mit meinem Vater für die nächsten zehn Jahre teilen würde. Ich habe es gehasst, aber nur auf den ersten Blick. Mit der Zeit wird ein Haus zum intimsten unserer Territorien. Wir eignen es uns an, wir gestalten es so, dass es unserem Bild entspricht. Wir richten ein, wir schlagen ein, wir bauen, wir dekorieren oder nicht, wir pflanzen … Außerdem widersetzt sich uns das Haus manchmal mit seinen Unvollkommenheiten und erlaubt uns dadurch, zu handeln, zu existieren und seine Identität im Raum auszudrücken. Das neue und fremde Haus wird nach und nach zum gemütlichen Heim und gleichzeitig zur Metonymie eines Lebens.
Schnickschnack, Fotos, Bilder oder Wandteppiche; nüchtern, überladen, ordentlich, buntscheckig; Tohuwabohu, musikalisch oder streng; Ordnung oder Unordnung … Es gibt so viele Stile und Lebensweisen, die uns ein Haus lesen lassen, wie wir ein Buch lesen. Ein Buch, das die individuelle, kulturelle und soziale Geschichte des Bewohners oder der Bewohnerin erzählt.
Der bewohnte Raum trägt zum Beispiel den Duft des*r Bewohner*in. Ich erinnere mich an die Wohnung meiner Großmutter. Die Wände und Möbel verströmten noch den Schweiß von hunderten, vor 15 Jahren gerauchten Zigaretten.
Wenn Sie Ihren Kopf in die Nackenbeuge Ihres Geliebten legen, bemerken Sie vielleicht den Geruch von Wäsche auf seinem oder ihrem Hemd, was Sie daran erinnern könnte, dass Sie in sein Wohnzimmer gegangen sind. Ein Haus trägt unseren Duft oder vielleicht tragen wir seinen.
Schließlich ist das Wohnen vor allem das Merkmal der menschlichen Kondition. Indem wir wohnen, materialisieren wir unsere Intimität und dies in Opposition mit einem anderen Raum, mit dem Außen und dem öffentlichen Raum. Auch diese Vorstellung von Intimität und Heimat ist eine kulturelle Konstruktion. In Frankreich, einem zentralistischen Land, geht die Tendenz dahin, das Land zu verlassen und sich in den großen städtischen Zentren niederzulassen. Tatsächlich lebt die Bevölkerung mehr in Wohnungen, während in Deutschland der Komfort des Familienheims eher mit dem Haus verbunden ist.
Um ein Beispiel eines Kulturschicks zu geben, was den Lebensraum angeht, hier meine Erinnerungen an die japanischen Studierendenwohnheime: Ein gigantischer Raum, gefüllt mit Tatami-Matten auf dem Boden als Betten und akribisch angeordnet wie ein Tetris. Kein Kleiderschrank, aber ein Stapel perfekt gefalteter Kleidung neben jeder Tatami, kein Schreibtisch, kein Nachttisch, keine persönlichen Gegenstände, nur ein unpersönlicher Schlafsaal, Spiegelbild einer Gesellschaft, in der der intime Raum verschwindet.
Kurz gesagt, ist das Zuhause eine Selbsterweiterung, Verräumlichung der Identität, ein Raum, der unsere Werte, unsere Regeln und unsere Darstellungen integriert. Wir hängen an dem Haus, auch wenn wir es manchmal verlassen müssen; wir vermissen es und finden es nach langer Abwesenheit gerne wieder, so sehr, dass wir uns fragen, ob es nicht das Haus ist, das uns bewohnt. Wichtig ist es daher, den eigenen Garten zu pflegen, innen wie außen, wenn beide eng miteinander verbunden sind.
Hannah berichtet euch dann nächste Woche von ihrem Wohnsinn. Freut euch drauf!