Wohnsinn-Kolumne: Von unliebsamen nächtlichen Gästen
Ich habe mir gerade die Zähne geputzt und kuschle mich müde in meine Bettdecke. Nach einem langen Plausch bei einem Glas Wein auf meinem Balkon ist meine Freundin soeben nach Hause gegangen. Da höre ich es: das unverkennbare summende Geräusch eines Insekts. Aber wo?
von Verena Gerbl
Panisch suche ich mit dem Blick meine Zimmerwände ab. Ich kann den Ursprung des Flügelsummens nicht genau zuordnen. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn und ich merke wie mein Herz wie nach einem Kurzsprint pocht. Ich werde mir meiner eigenen Ohnmacht bewusst: Selbst wenn ich wollte, könnte ich den unliebsamen Gast niemals aus meinem Zimmer wieder nach draußen in seine Freiheit befördern. Viel zu groß ist mein Ekel. Allein der Gedanke an einen Käfer oder eine Spinne in meinem Zimmer lässt mich erschaudern. Auf keinen Fall kann ich mit diesem Gedanken einschlafen. Igitt, wenn das Insekt nachts auf meinem Arm krabbelt!
Ich muss etwas unternehmen. Mit panischem, gehetztem Blick stehe ich auf und begebe mich auf die Suche. Und bald schon hab ich sein Versteck entdeckt: Hinter meinem Vorhang sitzt ein Maikäfer. Nachdem die Balkontür den ganzen Abend offen war, muss er wohl nach innen gelangt sein. Und was für ein Riesenexemplar da vor mir sitzt: braun, mit langen Fühlern, Mundwerkzeugen und riesigen Flügeln, die beim Flattern laut brummen. Ich bin den Tränen nahe: Mit geschlossenen Augen versuche ich mit den Händen an ihm vorbeizugreifen, um die Balkontür zu öffnen und ihm so den Weg in die Freiheit zu ermöglichen. Aber nichts da! Wie festgefroren sitzt er da und brummt gelegentlich bei halbherzigen Flugversuchen. Ich erschaudere. Niemals will ich dieses teuflische Insekt, die Vollendung meines persönlichen Horrors, auch nur kurz mit der Hand streifen.
Ich schaue auf die Uhr: Es ist halb eins. Ich zögere kurz, aber greife dann doch zu meinem Handy. Wenn ich in der Nacht auch nur ein Auge zu tun möchte, muss ich diesen Käfer loswerden. Ich rufe also meine Freundin an und bitte um Hilfe. Da ich wohl schon einmal von meiner Abneigung gegen Insekten berichtet hatte, erscheint sie mir nicht allzu verwundert über meine überzogene Panik und steht schon wenig später vor meiner Tür. Wie eine Heldin schreitet sie dann zum Vorhang, nimmt den Käfer in die Hand und wirft ihn durch die offene Balkontür nach draußen in Richtung Hecke. Mir wird schon beim Zusehen schlecht. Meine Panik scheint mir aber so sehr ins Gesicht geschrieben zu stehen und muss wohl derart überzogen gewirkt haben, dass meine Freundin dann doch lauthals über mich lachen muss.
Nur recht langsam kann ich mich danach von diesem traumatischen Erlebnis erholen. Nach einem „Absacker“ liege ich wenig später erneut im Bett in meine Decke gekuschelt und lausche gebannt: Kein Käfer-Brummen mehr! Was für ein Glück! Aber auch noch heute, über ein Jahr später bleibt das Erlebte mir in unliebsamer Erinnerung. Zudem sollte es nicht der letzte Vorfall dieser Art bleiben. Mit tierischen Gästen hat man im Sommer ja häufiger zu tun.
Und da bin ich wohl nicht die einzige: Fast jeder Mensch kennt sie, diese unbegründete Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen. Phobien gehören zum Alltag vieler Menschen und können in jeder nur erdenklichen Situation auftreten: der Kontakt zu Tieren, der Besuch beim Zahnarzt oder sogar das Erröten kann zu einer außerverhältnismäßigen Furchtreaktion führen. Doch was sind Phobien überhaupt?
Angst an sich ist zunächst einmal ein ganz natürlicher Reflex. Das Gefühl der Angst schützt uns nämlich wirksam gegen gefährliche Situationen: Wir ergreifen die Flucht, schrecken vor der Bedrohung zurück und vermeiden Situationen, die zu waghalsig oder riskant sind und unser Leben in Gefahr setzen könnten. Im Laufe der Evolution hat sich die Angst dementsprechend als wirksam erwiesen. Die Arachnophobie (Angst vor Spinnen) ist neben der Klaustrophobie (Angst vor engen Räumen) oder der Aviophobie (Flugangst) mitunter eine der häufigsten Arten der Phobien. Entwicklungsgeschichtlich hat die Angst des Menschen vor gewissen Insekten auch durchaus seine Berechtigung, können Spinnenbisse sogar tödlich enden. In der heutigen Zeit hingegen ist die Angst vor Spinnen – zumindest in einem mitteleuropäischen Haushalt – aber unbegründet.* Meinem Körper, der unkontrolliert und panisch auf Krabbeltierchen reagiert, ist diese Unbegründetheit aber nur schwer zu vermitteln.
Nächste Woche meldet sich dann Lotte wieder, hoffentlich ohne unliebsamen Krabbeltier-Besuch.
Beitragsbild: Walter Stirn | Unsplash
*Quelle zum Thema Phobien: Klinik Friedenweiler