Feminis:muss: »Ich war immer die Ausländerin«
Die Rassismusdebatte war im vergangenen Jahr allgegenwärtig – und auch wenn das Thema inzwischen weniger im Mittelpunkt steht, haben wir längst noch nicht genug darüber gesprochen. Eine junge Deutsch-Türkin erzählt von ihren Erfahrungen.
von Paula Kühn
Gelächter und der Duft nach angebratenen Zwiebeln erfüllen den Raum. An den hellgelb gestrichenen Wänden reihen sich die Familienfotos aneinander. Über dem mahagonifarbenen Chai-Tee in den zarten Gläsern steigen kleine Dampfwölkchen auf. Mit einem verschmitzten Lächeln wirft Dilara (Name geändert) in jedes der Gläser zwei Zuckerwürfel, die sie anschließend mit einem kleinen Löffel vorsichtig verrührt.
Dilara ist 21 Jahre alt, sie studiert Medizin und ist als Tochter türkeistämmiger Eltern in einer Münchner Vorstadt geboren und aufgewachsen. Auf die Frage, ob sie sich eher als Deutsche oder Türkin sieht, antwortet sie: »Das habe ich mich ehrlich gesagt noch nie gefragt.« Dann lacht sie inbrünstig und wirft die langen, dunkelbraunen Haare über die Schulter. »In Deutschland bin ich die Türkin, in der Türkei die Deutsche. Ich bin beides, denn ich bin nicht ganz Türkin und nicht ganz Deutsche. Ich bin wohl einfach Deutsch-Türkin.«
In Deutschland leben ungefähr drei Millionen türkeistämmige Menschen – oft bereits in der dritten Generation, wie auch Dilara. Die ehemaligen Gastarbeiter*innen und ihre Nachfahren sind also seit Jahrzehnten Teil der deutschen Gesellschaft – theoretisch. Denn die Realität sieht leider ganz anders aus.
Dilara ist auf den ersten Blick ein Musterbeispiel der »gelungenen Integration«: Abitur, Medizinstudium, viele deutsche Freunde. Und trotzdem fühlte sie sich häufig, als würde sie nicht dazugehören – vor allem früher in der Schule: »Ich war immer die Ausländerin.« Nicht sofort, denn auf den ersten Blick sieht Dilara aus »wie alle anderen«: dunkelbraune Augen, helle Haut, braune Haare. Anders und damit war lediglich ihr Name auffällig: »Sobald alle wussten, dass ich aus der Türkei komme, hat sich ihr Bild von mir geändert.« Das Gefühl anders zu sein, das Gefühl sich ausgegrenzt zu fühlen, entsteht durch vermeintlich kleine Dinge. Für Dilara war ein Auslöser für dieses Gefühl ihr Name, über den sich ständig alle lustig machten: »Als Kind wegen deines Namens ausgelacht zu werden ist natürlich alles andere als schön. Mittlerweile ist es mir egal, wenn jemand über meinen Namen lacht. Aber damals habe ich oft geweint, weil mein Name so anders war. Ich wollte nicht so heißen.«
Besonders traumatisierend ist der Moment, indem einem jungen Menschen klar wird, dass diese Ausgrenzung direkt mit der eigenen Nationalität zu tun hat. Für Dilara war das mit 15 – im Wirtschaftsunterricht ihres Gymnasiums. Das Thema war Arbeitslosigkeit. Alle betrachteten eine Karikatur, auf der eine Putzfrau mit Kopftuch zu sehen war, die wahrscheinlich eine Türkin darstellen sollte. Dilara erinnert sich nicht mehr genau an den eigentlichen Inhalt der Karikatur, aber sie erinnert sich sehr gut an den Kommentar des Lehrers: »Fragen wir doch mal die Dilara, wie das so ist – die meisten in ihrer Familie sind ja wahrscheinlich Putzfrauen.« Auch heute schüttelt sie bei der Erinnerung noch ungläubig den Kopf. »Es gibt Putzfrauen in meiner Familie. Aber das ist ja nichts wofür man sich schämen muss. Irgendjemand muss diese Arbeit schließlich machen. Und nur, weil meine Oma Putzfrau war, heißt das nicht, dass ich dümmer bin oder wir wenig Geld haben. Das war wirklich sehr verletzend – indirekt hatte er sich somit auch noch über meine Familie lustig gemacht.«
Solche Situationen gehören zu ihrem Alltag – wie für die meisten Menschen mit Migrationshintergrund. Trotzdem: ein Großteil der deutschen Öffentlichkeit scheint Rassismus immer noch als etwas wahrzunehmen, das maßgeblich irgendwo im Ausland stattfindet. Der Mord an George Floyd in den USA hatte letzten Sommer mehr Menschen auf die Straßen gebracht, als der rassistisch motivierte Anschlag in Hanau nur wenige Monate zuvor. Ein seltsames Vorbeischauen an den deutschen Verhältnissen. Auch die politische Seite wird permanent aus dem Thema entfernt. Kann ein Innenminister selbst ernannter »Anti-Rassismusbeauftragter« sein, wenn er noch kurz zuvor die »Einwanderung als Mutter aller Probleme« bezeichnet hat?
Dilarars Mutter, eine Frau mit einem herzlichen Lächeln, strahlenden dunklen Augen und einem weinroten Kopftuch, betritt den Raum; in ihren Händen hält sie ein großes Blech voll mit Baklava, das Dilaras Oma vorbeigebracht hat. Dilara springt sofort vom Tisch auf und holt Teller für alle, auf die sie und ihre Mutter in routinierten Handgriffen das in Honig getränkte Gebäck aufteilen. Die zwei kleinen Brüder kommen hinzu und stibitzen sich unter lauten Gesprächen auf Türkisch zwei Portionen.
Für Dilaras Mutter ist der Rassismus im Alltag viel stärker zu spüren, seit sie vor einigen Jahren anfing, ein Kopftuch zu tragen – jetzt ist sie klar als muslimische Frau identifizierbar. Sie erzählt von einem Spaziergangs mit ihrer Schwester vor ein paar Wochen: Die beiden unterhielten sich auf Türkisch, ihnen kam eine mittelalte Frau entgegen, die im Vorbeigehen murmelte: »Gehen Sie in ihr Land zurück, wenn Sie Türkisch reden wollen«. Als die beiden Frauen nachfragten, reagierte sie kein bisschen und lief einfach weiter. Kurz herrscht betretenes Schweigen, dann fügt Dilara hinzu: »Und auch wenn die Menschen nichts sagen, ist die Abneigung in ihren Blicken deutlich spürbar.«
Dabei hatte ihre Mutter zuvor jahrelang hatte sie mit sich gehadert, ob sie das Tuch wirklich tragen sollte – aus Angst, diskriminiert zu werden. Aus Angst, dass ihr etwas zustoßen könnte. Anders gesagt: Aus Sorge vor gesellschaftlicher Diskriminierung konnte sie ihre Religion nicht frei auszuüben. Das steht im krassen Gegensatz zum Klischee des strengen türkischen Vaters, der seine Tochter zum Kopftuch tragen zwingt – was nicht heißt, dass dieser Fall nicht auftritt – aber ist es nicht genauso Zwang, wenn man* aus Angst vor den, eventuell gefährlichen, Reaktionen der Anderen kein Kopftuch trägt? Die Wut in Dilaras Stimme ist deutlich zu hören, als sie bemerkt: »Ich starre ja auch niemanden an, der ultraknappe Hotpants anhat. Wieso sollten wir unser Haar nicht bedecken oder offen tragen können wie wir möchten? Es ist mein Körper, mein Aussehen. Ich verstehe nicht, wieso sich so viele Menschen daran stören, wenn jemand Kopftuch trägt«.
Heute verlässt Dilaras Mutter das Haus nicht mehr alleine, sobald es draußen dunkel ist.
Beide Frauen sind sich einig, dass der Rassismus besonders in den letzten Jahren zugenommen hat: Seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei 2016, der Reaktion Erdogans und der anschließenden türkeikritischen bis hysterischen Diskussion hierzulande. Dilara ist der Meinung, dass die deutschen Medien fast ausschließlich ein klischeebehaftetes Bild der Türkei zeigen: »Ich glaube all diese Vorurteile, die die Menschen sowieso schon haben, werden durch die Medien noch verstärkt. Die projizieren die Leute dann auf uns und glauben, wir würden genauso mittelalterlich denken, wie es häufig dargestellt wird.«
Ebenfalls zur anti-türkischen Stimmung tragen die islamistischen Anschläge der letzten Jahre bei. Sie sorgen dafür, dass viele Menschen ein gewaltbesetztes Bild vom Islam haben, das nicht der Wahrheit entspricht. Sie setzen den Terrorismus mit der Religion gleich.
Dilara und ihre Mutter würden sich wünschen, dass die Gesellschaft wieder mehr das Schöne und Gute am Islam – und damit auch an der Türkei – sieht. »Viele Menschen kriegen nichts vom Islam mit, außer die Nachrichten über terroristische Anschläge. Für sie ist der Islam Hass und Zwang.«
Für Dilara ist schon lange klar, dass sie nach ihrem Studium in der Türkei leben will und immer mehr ihrer deutsch-türkischen Freund*innen spielen in den letzten Jahren mit dem gleichen Gedanken. In der Migrationsforschung nennt man* dieses Phänomen »Integrationsparadoxon«: Junge Menschen, die in Deutschland geboren, aufgewachsen und äußerlich gut integriert sind, fühlen sich nicht so sehr als Teil der deutschen Gesellschaft, viel weniger als ihre Eltern oder Großeltern, die vor Jahrzehnten als Gastarbeiter*innen ins Land kamen. Die erste Generation der Zuwanderer*innen empfindet vor allem eine große Dankbarkeit für Deutschland, weil sie mit den Möglichkeiten hier ein Leben führen konnte, das in der Heimat nicht denkbar gewesen wäre.
Die zweite und dritte Generation, zu der Dilara gehört, vergleicht ihre Lage aber nicht mehr mit dem Land der Eltern und Großeltern, sondern mit den Möglichkeiten der Deutschen ohne Migrationsgeschichte — und ist dabei wesentlich sensibler für die starken Unterschiede und Diskriminierungen.
Dilara beugt sich über ihr Handy und tippt kurz auf dem Display herum. Kurz darauf ertönt eine starke Frauenstimme, die mit einer von tiefen Emotionen geprägten Stimme auf Türkisch singt. Dilara und ihre Mutter fangen an, leise mitzusingen und bewegen sich lächelnd im Takt. »Türkei ist für mich Heimat«, sagt Dilara. »Ich hatte immer Tränen in den Augen, wenn wir die Grenze überquert haben und man* die Flagge sehen konnte. Du hörst wie jeder Türkisch redet – und es macht dich einfach glücklich. Die Türk*innen sind so viel herzlicher, so viel wärmer. Egal ob man* sich kennt oder nicht. Es ist ein ganz anderes Gefühl als hier, du fühlst dich sofort aufgenommen. Nicht wie in Deutschland, wo ich die mit Migrationshintergrund bin. Vielen meiner Freunde geht es genauso.«