»werther.live«: Über digitales Theater, das weiß, was es tut
Es ist ein besonderer und außergewöhnlicher Abend. Und das, weil er nicht versucht, besonders und außergewöhnlich zu sein. Er zeigt das, was Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, als ihr ganz normales Leben kennen. »Werther.live« macht das, woran die Stadt- und Staatstheater scheitern: gutes digitales Theater.
von Lukas Reinsch
Die Karten kosten vier Euro, man* bekommt einen Link und einen Code zum Stream, meine gesamte Schauspielschule1 schaut es sich an. Ich habe vorher schon zufällig von der Inszenierung gehört. Will heißen, mir wurde der Instagram-Kanal wer.werther vorgeschlagen; der Kanal, über den Werther in der Inszenierung live interagiert. Ich bin damals nicht drauf eingegangen, wurde dann aber wieder darauf aufmerksam, als ich einen Artikel der New York Times über »werther.live« gesehen habe und die Inszenierung beim Theatertreffen von Nachtkritik unter die besten zehn Inszenierungen des Jahres gewählt wurde. Beides – sowie alle weiteren Auszeichnungen und Einladungen – sind voll verdient.
Handlung und Spoiler
Werther (Jonny Hoff) wirkt lost. Seine gesamte Art, einschließlich dem etwas ziellosen Zeit-Totschlagen am Bildschirm, erscheint mir so, wie ich mir Tom Schillings Charakter aus »Oh Boy« im Lockdown vorstelle. Werther und sein bester Freund Willi (Florian Gerteis) sollen studieren, machen aber lieber digitale Kunst, feiern Sturm-und-Drag-Mottoparties und wollen dabei am besten auch noch Frauen näherkommen. Werther kauft ein Buch über ebay-Kleinanzeigen und lernt so Lotte (Klara Wördemann) kennen. Sie kommen ins Gespräch, verstehen sich gut und Werther verliebt sich. Lottes Freund Albert Grünhausen (Michael Kranz) ist ein schnurrbärtiger, brunnenbauender Weltverbesserer und schon seit Jahren mit ihr zusammen. Beide sind sehr glücklich und Lotte wird sich nicht von Albert trennen, auch als sie und Werther sich annähern. Verzweifelt von dieser aussichtslosen Liebe begeht Werther schließlich Selbstmord.
Sprachebenen
Es gibt in der Medienwissenschaft eine klassische, binäre Aufteilung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache. Geschriebene Sprache sei verdichtet (haha, Wortspiel) und indirekt, also zeitlich versetzt zwischen Sender*in und Empfänger*in. An diesem Ende des Spektrums liegen Briefe und damit auch »Die Leiden des Jungen Werthers«. Gesprochene Sprache hingegen sei lockerer und direkt, also zeitgleich. Eine normale Unterhaltung zwischen Freund*innen eben, das andere Ende des Spektrums. Diese Aufteilung hat sich im online-Zeitalter aufgelockert und bildet nun eher einen Quadranten mit den beiden Achsen »gesprochen <-> geschrieben« und »direkt <-> indirekt«. Und diesen Quadranten weiß »werther.live« zu nutzen. Kommunikation findet auf allen Kanälen statt, gesprochen und direkt auf Zoom und am Telefon, geschrieben und direkt auf WhatsApp und Facebook, gesprochen und indirekt als Sprachnachrichten, geschrieben und indirekt als vorformulierte Nachrichten, die nie abgeschickt wurden.
Theater für Digital Natives
Was diese Inszenierung so gut macht, ist, dass sie sich nicht wie ein Ersatz für »echtes« Theater anfühlt. Es ist keine Notlösung, kein abgefilmtes Theater, sei es auch noch so gut abgefilmt. Es schwingt nicht das Gefühl mit, dass es in Wahrheit doch eigentlich für eine Bühne mit Live-Publikum gedacht ist, wie beispielsweise bei der stark digitalen Inszenierung von Kay Voges. Ganz im Gegenteil, es ist eine Inszenierung, die tatsächlich im digitalen Raum besser funktioniert, die auf einer Bühne fehl am Platz wäre. Das mag daran liegen, dass die Regie, bestehend aus Regisseurin Cosmea Spelleken und Regieassistentin Lotta Schweikert, aus dem Filmbereich kommt und nicht für die Bühne konzipiert. Es entsteht Theater für junge Menschen, für Digital Natives, frei von Sorgen, Theaterabonnent*innen zu verlieren. Ein künstlerisches »ok boomer«, wenn man* so will. Die Anspielungen und theatralen Mittel fühlen sich für mich als Digital Native viel natürlicher an, als abgefilmtes Theater anzusehen. Werther folgt bestofkleinanzeigen1, Willi teilt Memes über Marx und Nietzsche und GIFs vom »Prince of Bel-Air«. Die Briefe aus Goethes Roman werden zu Chatverläufen, die Zeichnungen Werthers zu Photoshop-Collagen. Die Nachrichten werden live geschrieben und die Sprachnachrichten live aufgenommen, anstatt vorproduziert zu sein. Werther sind Kommafehler und Großschreibung egal, wenn er mit Willi schreibt; bei Lotte hingegen achtet er genau darauf. Die Bedeutung dieser Details mag an einem Theaterpublikum 60+ vermutlich vorbeigehen. Dabei ist es umgekehrt ja nicht anders, wenn Jelinek in zehn Zeilen 40 bildungsbürgerliche Referenzen auf Gott und die Welt und Politik sowieso bringt, wozu ein junges Theaterpublikum keinen Bezug hat. Selbst ein hoch gebildetes und theaterversiertes nicht, da es die emotionale Bedeutung dieser Themen schlichtweg nicht erlebt hat. »Werther.live« ist Theater für eine Generation, für die das Internet ein allumfassender Teil ihres Lebens ist, in der es nicht mehr verpönt ist, jemanden online kennen zu lernen, sondern wo genau das während Corona zur einzigen Möglichkeit geworden ist, überhaupt jemanden kennen zu lernen, wenn auch seltener über eBay-Kleinanzeigen.
Multiplattform-Storytelling
Werther hat tatsächlich ein komplettes Onlineprofil auf den gängigen Seiten sowie eine eigene Handynummer für Anrufe und WhatsApp. Manchmal werden neben den Messengern und Videocall-Diensten untypischere Seiten wie zum Beispiel Skyscanner benutzt, die größte sonstige Plattform ist aber Instagram. So haben auch alle vier Charaktere im Stück ein eigenes Profil dort. Die Technik wird live von der Lotta Schweikert als Abendspielleitung und dem Techniker Leonard Wölfl verwaltet, Spamnachrichten werden herausgefiltert, Zeitsprünge werden mit neuen Bildern untermalt, die nebenbei bemerkt kein bisschen gestellt wirken und tatsächlich auch mit den entsprechenden Jahreszeiten übereinstimmen. Nach zehn Minuten im Stück ruft Werther sein Instagram auf und klickt auf die neuen Follower*innen. Unter ihnen sehe ich meine eigene Kommilitonin und meine Schauspielschule. Werther macht einen Witz über den einen Kanal, folgt dem anderen. Ich beginne, die Profile der Charaktere selbst anzusehen. Auch wenn sie nicht mal in ihrer Gänze im Stück vorkommen, sind hier vier authentische und ansprechende Profile, die man* sich als Zuschauende ansehen kann und ich ertappe mich selbst dabei, Lotte und Albert zu stalken, wie es Werther tut. Die Profile auf den verschiedenen Seiten machen nicht nur die Charaktere für ein junges Publikum greifbar, sie bringen auch ein Stück Bühnenbild auf das eigene Handy, das damit den Bildschirm Werthers erweitert. Man* muss wirklich die Liebe zum Detail wertschätzen, wenn man* sieht, dass Albert mitten in der Inszenierung eine Spendenaktion für »Brot für die Welt« startet.
Digitale Ko-Präsenz
Wenn Publikum und Darstellende zur gleichen Zeit vor Ort sind, spricht man* in der Theaterwissenschaft von »leiblicher Ko-Präsenz«. Wie Peter Brook es formuliert hat: »Ein Mann geht durch einen leeren Raum, während jemand ihm zuschaut – das ist alles, was man dafür braucht, in einen Theaterakt hineingezogen zu werden.« Im Unterschied zu Kino oder Fernsehen ist das Theaterpublikum während gespielt wird live im Raum und ihre Anwesenheit hat, der These zufolge, eine Auswirkung auf die Menschen auf der Bühne. Nun ist Peter Brook aber 1925 geboren (zum Vergleich: Das ist 4 Jahre vor Anne Frank und Martin Luther King), also würde ich auch die These als etwas überholt betrachten. Das Konzept der leiblichen Ko-Präsenz geht von einer wechselseitigen Kommunikation im Theater und einer einseitigen Kommunikation im gefilmten Bereich aus. Film und Fernsehen sind eben Medien der one-to-many-Kommunikation, wo ein/e Sender*in viele Empfänger*innen hat, während Theater durch das Lachen, Weinen, Applaudieren des Publikums auch eine many-to-one-Kommunikation enthält. Das Internet ist aber ein many-to-many-Medium; eine Tatsache, die das Team von »werther.live« mit offenen Armen begrüßt. Werther sieht die Likes auf seine neuen Bilder, die Kommentare, die Follower*innen, die Nachrichten. Dafür sehen wir, wie er heimlich im Videocall mit dem Mauszeiger Lottes Gesichtszüge nachfährt. Für das Publikum ist es ein voyeuristischer Einblick in jeden Aspekt von Werthers Leben, der seinerseits Lotte verfolgt. Im digitalen Raum ist man* sogar mehr als nur ko-präsent, man* ist omnipräsent.
Die Inszenierung ist vorbei. Man* kann auf der Website von »werther.live« digital applaudieren. Ich sehe, dass knapp über tausend Zuschauer*innen die Aufführung verfolgt haben, was ungefähr dem ausverkauften Residenztheater in München entsprechen würde. Vermutlich sind es sogar mehr Leute, da man* ja von mehreren Menschen pro Bildschirm ausgehen kann. Der Abend hat überzeugt. Klar, es gab ein paar Schwierigkeiten – als das Internet hing, oder als der Pizzadienst für die Mitbewohnerin in der Wohnung des Hauptdarstellers geklingelt hat – aber so ist unsere aktuelle Lebenswirklichkeit nun mal. Was in mir bleibt ist das Gefühl, dass dieser Abend genau das tut, was ich mir von digitalem Theater gewünscht habe: Ein Abend, der nicht gegen die Limitationen des digitalen Raums kämpft, sondern der die Möglichkeiten dessen voll ausnutzt. So geht innovatives Theater.
Termine sind noch am 27. März und am 10. April. Mehr Informationen findet Ihr auf der Website von »werther.live.«
1 Anmerkung der Redaktion: Lukas Reinsch ist Schauspielschüler an der Akademie für Darstellende Kunst Bayern in Regensburg und hat einen Gastbeitrag für die Lautschrift verfasst.
Beitragsbild: Jonny Hoff als Werther ©werther.live