Wohnsinn-Kolumne: Mehr Selbstmitleid-Positivity, please!
Es ist Ende Januar. Winter zu dieser Zeit des Jahres ist eh immer am Rande des Erträglichen und keine Dekoartikel der Welt könnte diesen zweiten Lockdown hübscher machen. »Well, you just have to put Glitter on it!« Denkste! Ein Stimmungsbild.
von Anna-Lena Brunner
Momentan ist jede*r genervt, habe ich so den Eindruck. Niemand lächelt sich mehr random auf der Straße zu, weil man das unter der Kackmaske ja sowieso nicht sieht und Tür aufhalten? Nein, danke … Diese Keime kommen nicht an meine gerade frisch desinfizierten Fingerchen. Die Stimmung scheint – gelinde gesagt – an einem neuen Tiefpunkt angekommen zu sein. Und wen wundert’s? Seit fast einem Jahr steckt die Welt pandemiebedingt in der Klemme. Normalität? Fehlanzeige. Und zu allem Übel kann man* dann in der Tagesschau auch noch dann und wann kreischenden Büffel-Schamanen, die easy-peasy das Capitol in Washington stürmen, zuschauen. Wie soll man da bitteschön gute Laune haben?
Man* merkt es vielleicht. Auch ich bin gerade nicht so guter Dinge. Wie gefühlt jede*r momentan. Und das ist okay. Denn die Welt ist ziemlich am Arsch. Und wenn dann morgens die Kaffeedose leer ist oder die Nachbar*innen über einem*r ein neues Workout ausprobieren, kann man* das alles ganz schnell auf sich selbst projizieren. Oder eben auf das Weltgeschehen. Selbstmitleid ist doch die Nächstenliebe zu Pandemiezeiten, oder?
Ein klitzekleines, leises Persönchen in mir erhebt dann die Stimme, wenn ich in solch trantütige Monologe verfalle. Das Persönchen setz dann an und schreit mit unerwartet lautem Organ: »Jetzt reiß dich mal zusammen! Das hält ja keine*r aus! Anderswo herrscht Krieg und du heulst rum, weil du keine Chai Lattes mehr trinken gehen kannst, oder was?« Meine Unterlippe zittert. Ich bin den Tränen nah. Das Persönchen hat natürlich recht und weil ich so ein schlechter Mensch bin, vergrabe ich mich in meinem Bett und tauche nie, nie wieder auf.
Ok. Das war jetzt eventuell minimal pathetisch. Aber das ist doch auch in Ordnung irgendwie. Genauso wie schlecht drauf zu sein in Ordnung ist zurzeit. Wir befinden uns nun mal in einer Ausnahmesituation, können unserem gewohnten Alltag nicht nachgehen und unsere Freund*innen nicht so häufig sehen. Und wen das nicht belastet, hat entweder eine Psyche aus Stahl oder keine Freund*innen (just kidding!).
Nein, aber im Ernst. Ich finde, dieser manisch anmutende Optimismus, den die Corona-Zeit in so manchen von uns hervorgebracht hat, auch nicht gerade gesund. Spielt das nicht in ein Narrativ hinein, immer nur die beste, optimierte, perfekteste Version unseres Selbst zu sein? Immer erfolgreich, jung und schön. Und vor allem produktiv. Es ist nicht erlaubt, nichts zu tun, wenn man* nichts zu tun hat. Dann muss man* halt irgendeine Challenge starten, um sein*ihr Leben irgendwie wieder mit Sinn zu füllen. Vermeintlich. Aber ist es das? Sinnvoll? Ich bin mir da nicht so sicher und plädiere deswegen für mehr ehrliches Jammern.
Einfach mal rauslassen, was eine*m alles nervt, was gerade kacke ist und akzeptieren, das 2020 halt einfach nicht so war, wie man* sich das vorgestellt hat. Und das ist okay. Denn wenn das jede*r zugeben würde, würde man* sich vielleicht auch wieder besser fühlen. Wenn auch nur minimal.
Vielleicht heitert euch ja kommende Woche Verena auf. Die ist nämlich als nächstes mit dem Wohnsinn dran!
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