Wohnsinn-Kolumne: Von Pavarotti, Ed Sheeran und Philipp Amthor
Lockdown-Zeiten können ganz schön langweilig sein, aber mit ein bisschen Fantasie und dem richtigen Anstoß von oben kann es doch ganz unterhaltsam werden. Man (oder frau) muss nur aufpassen, dass der Sturz in die krude Realität einen dann nicht zu heftig trifft.
von Hannah Ickes
Das erste Mal hörte ich ihn ein paar Tage, nachdem ich in mein neues Wohnheimzimmer gezogen war. Ich hatte gerade eine Stunde darüber sinniert, wie ich die wohl für fast jedes Student*innenzimmer obligatorische Fotowand anbringen würde und wollte mich nun bettfertig machen. Da hörte ich opernartige Klänge aus dem Zimmer im Stock über meinem durch das Gebäude schallen. War das etwa »La donna è mobile«? Nachdem ich meine norddeutsche Empörung über die nächtliche Ruhestörung hinter mir gelassen und sich Pavarotti durch ganz »Rigoletto« gearbeitet hatte, musste ich schmunzeln. Ein paar der Klischees über katholische Wohnheime stimmten also doch.
Das nächste Mal, dass ich ihn hörte, war ganz unkatholisch. Ich saß gerade in einer Zoom-Konferenz, als plötzlich jemand begann zu schreien. Nach einem anfänglichen Schreck setzen E-Gitarre und Schlagzeug ein, und ich stellte fest, dass Pavarotti zum Lead-Sänger einer Hardcore-Punk-Band mutiert war. Nachdem ich Pavarottis Darbietung von »Rigoletto« ein wenig liebgewonnen hatte, und man sich zu Hardcore-Punk wesentlich schlechter konzentrieren konnte, war ich doch ein wenig genervt von seiner zunehmenden Begeisterung für Agnostic Front, Bad Brains und Black Flag. Meine Bildung, was Hardcore-Punk anging, nahm exponentiell zu. Immerhin fanden diese Sessions nur mittags statt und wurden zunehmend seltener nach Semesterbeginn.
Tatsächlich begann ich schon fast, ihn zu vermissen. Da hörte ich eines Abends im November – ich hatte gerade das Licht ausgeschaltet – die ersten Akkorde von Oasis‘ »Wonderwall«, und obwohl sich die Geister bei diesem Lied scheiden, freute ich mich in Lockdown-Zeiten über die altbekannten Klänge, die mich an Lagerfeuer in Sommercamps und lange Zugfahrten zurückversetzten. Nach Oasis arbeitete er sich durch die Balladen von Ed Sheeran, und über Elton John schlief ich ein.
Danach hatte mein Mitbewohner von oben mich endgültig für sich gewonnen. Obwohl mich sein Timing manchmal nervte und sich meine Begeisterung für Hardcore-Punk immer noch in Grenzen hielt, war ich fasziniert von seiner Wandelbarkeit und begeistert von den Anekdoten, die ich über ihn berichten konnte. Zunehmend war ich auch neugierig darauf, wie er wohl aussehen würde. Außerdem wollte ich ihn wiedererkennen können, sollte er eines Tages ein gefeierter Musiker werden. Irgendwie stellte ich ihn mir wie einen Piraten vor: mit Ohrring und Pferdeschwanz, halt aufregend wie sein Musikgeschmack.
Mitte Dezember ergab sich dann die Gelegenheit. Einer meiner Mitbewohner aus dem Stockwerk über mir hatte ein Paket für mich entgegengenommen. Ich kannte nur die Zimmernummer, nicht aber seinen Namen. Erst vor der Zimmertür stellte ich fest, dass es sich um Pavarotti handelte. Das war schon richtig nervenaufreibend. Leider entpuppte er sich nicht als Pirat – er hatte nicht mal einen Pferdeschwanz oder einen Ohrring – sondern als Durchschnittsstudent mit einer Vorliebe fürs Theater, wie ich aus einem Plakat an seiner Zimmertür schloss. Am meisten schockierte mich allerdings sein Name. Philipp Beamthor oder so. Ähnlich langweilig, wie er aussieht, heißt er auch. Da finde ich ja sogar seinen Fastnamensvettern aufregender. Ob dem mal nicht mal einer einen Pferdeschwanz empfehlen könnte?
Nächste Woche meldet sich dann Lotte mit WG-Geschichten im neuen Jahr wieder.