Repost: Die zweite Chance

Repost: Die zweite Chance

*** Adventsspecial ***

Dieser Artikel ist Teil des Lautschrift-Adventskalenders. Vom 1. bis zum 24. Dezember hat sich die Lautschrift jeden Tag eine weihnachtliche Kleinigkeit zum Lesen, Gewinnen oder drüber Nachdenken ausgedacht. Wer nichts verpassen möchte, schaut am besten jeden Tag auf unserem Instagram-Profil vorbei.

 

Eine Kurzgeschichte von Kati Auerswald

Was für ein eiskalter Winter. Immer wieder schüttelte ich meine Schultern, in der Hoffnung, doch noch etwas Wärme aus den Tiefen meines Inneren ziehen zu können. Irgendeine Form von Energie vielleicht. Es war schon sehr spät. Ungeduldig tippte ich mit beiden Zeigefingern auf das Lenkrad meines kleinen roten Volvos. Eigentlich wollte ich zuhause sein, bevor es stockdunkel ist. Das hatte ich auch meiner Familie so gesagt. Doch dann hatte meine Mutter doch so auf mich eingeredet, dass ich mich fast schlecht fühlte, überhaupt erst den Gedanken gehabt zu haben, früher loszufahren. Es sei ja nur einmal im Jahr Weihnachten und nur da kommt die ganze Familie zusammen. Ich gestehe ja, dass ich immer so viel zu tun habe, dass ich es oft nicht schaffte, mein Elternhaus zu besuchen. Aber mit »fast nie« hatte meine Mutter schon etwas übertrieben – was sie nur allzu gerne tat. Mütter eben. Hier war ich also. In meinem Volvo. Auf dem Heimweg. Nach den Weihnachtstagen. In der Dunkelheit, die von bunten Ampeln, Straßenbeleuchtungen und Autoscheinwerfern so beleuchtet war, dass sie schon wieder künstlich erzeugt aussah. An der nächsten roten Ampel warf ich einen Blick in das Auto neben mir; ein dunkler BMW. Selbst in dem schwachen Licht konnte ich den jungen Mann mit seinem weißen Hemd und dem dazu passenden Jackett erkennen. Auch sonst wirkte er sehr gepflegt und herausgeputzt, als würde er gerade von einem Geschäftsessen kommen, was ja durchaus sein konnte. Als die Ampel auf Grün sprang, fuhr ich langsam an, sah kurz zum BMW-Fahrer, der es ebenfalls nicht eilig zu haben schien. Ich richtete den Blick wieder auf meine Fahrbahn. Das nächste was meine Augen sahen, war ein hoher Kombi, der mit rasanter Geschwindigkeit direkt auf mich zusteuerte. Wie aus weiter Entfernung nahm ich das dumpfe Geräusch von schmetterndem Metall wahr. 

Es spielte sich direkt vor mir ab, doch das bekam ich nicht mehr mit. Denn plötzlich saß ich wieder neben dem Weihnachtsbaum, der sich prunkvoll im Wohnzimmer meiner Familie präsentierte. Als ich aufsah, stand meine Oma vor mir. Sie sah mich fragend an. Ich sah sie fragend an. Sie starb vor drei Wochen. Nur zwei Wochen bevor mein Vater starb – an derselben Tumorart, der genetisch bedingt war. Es war fast so, als hätten sie sich abgesprochen. Nur dass es meinen Vater im Vergleich zu meiner Oma viel zu früh aus dem Leben gerissen hat. »Schätzchen, was hast du denn?« Allein vom Klang ihrer Stimme schnürte sich mein Hals zu. Ihre sanfte, beruhigende Art. Ich vermisste sie so sehr. Genauso wie meinen Vater, auch wenn ich keine so starke Verbindung zu ihm hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Bin ich … tot?« Ich fand, dass sich meine Stimme fremd anhörte – so gar nicht wie ich. Und zugleich albern. »Denkst du, dass du es bist?«, entgegnete meine Oma. »Spielt es eine Rolle, was ich denke?«, schnappte ich fast zurück. Ich hatte nicht beabsichtigt, harsch zu antworten. Es tat nur weh, sie zu sehen. Es erinnerte mich an das traurige Weihnachtsfest, von dem ich gerade kam. »Du kannst unmöglich real sein.« »Macht das einen Unterschied, Kleine?« Ich grinste. Egal wie alt ich war, ich war immer ihre Kleine. »Seit du und Papa gegangen seid, ist alles anders. Weihnachten war anders. Mum ist fast durchgedreht. Tim hat die ganze Zeit ein böses Gesicht gezogen und Tina nur geweint. Dass ihr einfach so gegangen seid; das ist nicht fair.« Gewohnt, die große Schwester zu spielen, versuchte ich stark zu klingen. Ehrlich und stark. Meine Oma zog eine Augenbraue nach oben. »Fair? Sag mir, Vera, wann denkst du, war das Leben fair zu dir?« Sie sprach jetzt das erste Mal meinen Namen aus. Sie wollte, dass ich nachdachte. Also tat ich es. Ich durchforstete mein eigenes Leben nach Erinnerungen in Form von Bildern, die von entsprechenden Emotionen begleitet wurden. Was ich sah, war mein extremer Ehrgeiz, den ich all die Jahre auf meine Karriere angewandt hatte. Es war mein Vater, der mich immer ermutigt und mir gesagt hatte, ich würde alles bekommen, was ich mir immer erträumt hatte, wenn ich nur hart genug dafür arbeiten würde. Also arbeitete ich. Arbeitete und arbeitete; biss und kämpfte mich durch, wofür ich nicht selten Freunde und Familie vernachlässigte. Und wofür? Für einen Job, der mir mehr Geld einbrachte, als ich je ausgeben könnte – und den ich hasste. Doch war das fair? »Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen«, flüsterte ich. »Was würdest du anders machen?« »Ich würde mir mehr Zeit für dich und meinen Vater nehmen. Für die Familie. Ihnen öfters sagen, wie viel sie mir bedeuten.« Ich sah kurz auf meinen Schoß herunter. »Ich würde häufiger mit Tina raus gehen, Tim öfter bei seinen Hausaufgaben helfen. Mit Mum Kaffee trinken gehen, so wie früher. Ich würde so oft wie möglich barfuß laufen; weniger arbeiten oder meinen Job kündigen.« Meinen Job. Für den ich so hart gearbeitet hatte. Eine Arbeit, in der man gut verdient, gibt Sicherheit. Geld gibt Sicherheit. Doch Geld schützt dich nicht vor Tod oder Verlust und tröstet dich auch nicht darüber hinweg. Zumindest nicht langfristig. Ich atmete tief ein und aus. Mit einem Mal kamen mir so viele Dinge in den Sinn. »Ich würde versuchen, das Leben nicht mehr so ernst zu nehmen. Mich bemühen, weniger perfekt sein zu wollen. Nicht mehr so viel Wert auf die Meinungen anderer Menschen legen.« Ich grinste, hob meinen Kopf und sah meine Großmutter direkt an. »Und vielleicht häufiger Junkfood essen.« Plötzlich spürte ich sie – eine wohltuende Wärme, die mich umgab, und kurz fragte ich mich, ob sie von mir oder meiner Oma ausging. »Was, wenn ich dir sagen würde, dass es für all diese Dinge noch nicht zu spät ist, Kleine? Was wäre, wenn du eine zweite Chance hättest?«, fragte meine Oma. Ich runzelte die Stirn. »Es würde Vieles und gleichzeitig nichts ändern. Es würde mir dich und Papa nicht zurückbringen.« »Was es zurückbringen würde, wäre dich. Wir würden in dir weiterleben. Und du kämpfst weiter. So wie du es bereits dein Leben lang tust. Du kannst für die Familie da sein, für deine Geschwister … und dein Junkfood essen«, fügte sie hinzu. Ich musste schmunzeln und die Wärme um mich herum verstärkte sich. »Es ist nur … ihr fehlt mir so sehr.« »Und das ist okay. Es wäre schlimm, es nicht so wäre. Das zeigt nur, dass du menschlich bist.« Sie trat einen Schritt näher und beugte sich zu mir herunter. Legte eine Hand über meine Brust. »Wir sind immer bei dir.«

Wie abrupt aus einem langen Traum gerissen, fuhr ich hoch und zog gierig Sauerstoff ein. »Sie atmet!«, rief ein weiß-rot gekleideter Mann neben mir. Ein Sanitäter. »Sieht so aus, als bräuchten wir doch nur einen Leichenwagen.« Er gab seinen Kollegen ein Handzeichen. Ich sah mich verwirrt um und stellte fest, dass ich auf nassem Teerboden saß. »Was ist passiert?«, fragte ich, während ich mir den Kopf rieb. Als ich meine Hand löste, sah ich frisches Blut an ihr kleben. Der Mann verband augenblicklich meinen Kopf, hielt dann meinen rechten Arm hoch, der von blutigen Kratzern und Blutergüssen geziert war. »Sie hatten einen Autounfall – und verdammt Glück, wenn Sie mich fragen.« Mit diesen Worten stand er auf und winkte eine ähnlich gekleidete Frau herbei. Sie durchleuchtete mit einer kleinen Taschenlampe meine Augen und musterte mich. »Können Sie sich an irgendetwas erinnern?« Ich überlegte kurz. Da war der BMW. Ein Kombi … und Scheinwerfer. »Ein Auto rammte mich.« »Ja, ein Geisterfahrer. Nachdem er Sie erwischt hatte, nahm er das Auto neben Ihnen komplett mit; der Fahrer hatte nicht so viel Glück wie Sie.« Sie deutete mit der Taschenlampe hinter mich. Ich drehte mich um und erkannte den BMW. Erinnerte mich an den schick gekleideten, jungen Fahrer. »Sie sind vom Fahrstreifen abgekommen und gegen einen Baum gefahren. Hätten Sie einen Beifahrer gehabt, wäre der jetzt tot.« Die Frau schien genauestens Bescheid zu wissen. »Wir hatten zuerst zwei Leichenwägen herbestellt. Sie … Sie hatten keinen Puls mehr.« Die letzten Worte rief die Sanitäterin fast aus. Murmelte etwas von Wunder vor sich hin, während sie auf einem Block Papier irgendwelche Sachen niederkritzelte und ankreuzte. Sie brabbelte weiter vor sich hin und zog abwechselnd die Augenbrauen hoch. »Nun, was machen Sie, jetzt wo Sie eine zweite Chance bekommen haben?« Ich lächelte und sah vor meinem geistigen Auge meine Oma. Eine seltsame Freude stieg in mir hoch. Lebensfreude. Ich strahlte die Frau vor mir an, als wäre sie ein gesandter Engel. Tränen stiegen mir in die Augen. »Einfach alles anders«.

Beitragsbild: © Sonja Zwickenpflug

Dieser Artikel erschien als Rubrik »Kurzgeschichte« bereits in der 28. Ausgabe der Lautschrift.
Die gesamte Ausgabe 28 findet ihr hier noch einmal in voller Länge.

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