Repost: Zwischen Kitsch und Bordell-Beleuchtung
*** Adventsspecial ***
Dieser Artikel ist Teil des Lautschrift-Adventskalenders. Vom 1. bis zum 24. Dezember hat sich die Lautschrift jeden Tag eine weihnachtliche Kleinigkeit zum Lesen, Gewinnen oder drüber Nachdenken ausgedacht. Wer nichts verpassen möchte, schaut am besten jeden Tag auf unserem Instagram-Profil vorbei.
In der Advents- und Weihnachtszeit konvertiert ja irgendwie jede/r zur/m Dekorierwütigen. Leider aber auch diejenigen, die sich die restlichen elf Monate des Jahres eher weniger mit ästhetischer Wohnungs- und Balkondekoration beschäftigen. Zu dieser Kategorie der »Saison-DekoriererInnen« gehören auch unsere NachbarInnen. Was das für visuelle Entgleisungen ergibt, erfahrt Ihr im dieswöchigen Wohnsinn.
von Lotte Nachtmann
Als ich eines schönen Abends zu Beginn der Adventszeit durchs Treppenhaus in die vierte Etage stiefelte, fiel ich im dritten Stock fast den Absatz der Treppe rückwärts wieder runter und bekam Schnappatmung. Was war der Auslöser für diesen vorweihnachtlichen Schwächeanfall? Ich würde das ganze eher als ästhetischen Schockzustand angesichts der neuen weihnachtlichen Deko an der Wohnungstür der Nachbarsfamilie deklarieren. Um auch die adventliche Stimmung im Treppenhaus zu verbreiten und die Vorfreude auf das baldige Weihnachtsfest allen BewohnerInnen des Mehrfamilienhauses als eine Art Ohrfeige ins Gesicht zu pfeffern, haben unsere NachbarInnen von unten einen Kranz an ihrer Wohnungstür installiert. Die Tatsache, dass man auch die Gemeinschaftsbereiche eines Hauses in Weihnachtsflair hüllt, ist ja an sich noch kein Grund für Aufregung. Doch dieses Inconnu, das da unser Treppenhaus visuell kontaminiert, wäre eher als Beleidigung für jedwede geschmackvolle Adventsdeko zu bezeichnen. Die Mischung aus blauen, silbernen, BRAUNEN!!!! und goldenen Kugeln sowie silbernen und roten Glöckchen allein wäre ja schon ein Anschlag auf eine halbwegs normale farbästhetische Wahrnehmung. Aber nein: das ganze wird an Hässlichkeit noch potenziert durch goldene und silberne Flittergirlanden, die sich um den kaum noch durchscheinende Plastik-Tannenzeig-Kranz winden. Und würde das alles nicht schon ausreichen, um selbst Tine Wittler und Enie van de Meiklokjes an den Rande der Verzweiflung zu treiben, kam irgendjemand aus dieser mit Geschmack wohl nicht sehr gesegneten Familie noch auf die glorreiche Idee, Lametta drauf zu schmeißen. Und so »verziert« diese fragwürde Mischung aus Sperrmüll-reifen Dekoelemente und Schwermetall-belasteten Unmöglichkeiten, die schon zu Zeiten von Weihnachten bei Hoppenstedts keinem mehr zuzumuten waren, unser Treppenhaus. Selbst wenn es sich bei dieser optischen Entgleisung um eine Bastelarbeit der beiden Kinder handelt, sind meine Mitbewohnerin und ich uns einig, dass man damit doch bitte nicht die gesamte Bewohnerschaft des Hauses belästigen, sondern vielleicht lieber die Tür zur Abstellkammer innerhalb der eignen vier Wände verschandeln sollte. Wenn die Weihnachtsdeko in der Wohnung auch nur annährend im »Stil« dieses Kranzes gehalten ist, dann möchte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen, was sich hinter der Tür, die man schon beim reinen Anblick nur mit leichtem Brechreiz öffnen möchte, verbirgt.
Balkondekoration mit LSD-Trip inklusive
Aber einmal mit Scheuklappenblick an dieser Scheußlichkeit vorbei, sollte ich nicht sicher sein vor Kopfschmerzen verursachenden Weihnachtsdekorationen. Einige Tage später entpuppte sich der abendliche Blick aus meinem Fenster auf das Nachbarhaus als ein weiteres Attentat auf meinen sensiblen Sinn für Geschmack. Von vier Balkonen übereinander sowie zahlreichen weiteren Fenstern und Balustraden der gesamten Häuserfront strahlten und blickten mich Lichterketten in den absurdesten Farbkombinationen und selbstverständlich nicht aufeinander abgestimmten Rhythmen an. Von sich einfach krass beißenden Zusammenstellungen aus neogrün, -pink, -lila und -blau über wahnwitzige Blicktiraden, bei deren Programmierung der/die HerstellerIn vermutlich jede/n KäuferIn an ihrem/seinen LSD-Trip teilhaben lassen wollte, bis hin zu – man kann es nicht anders bezeichnen – an Bordell-Beleuchtung erinnernde Lichtergirlanden. Man kann ja zu weihnachtlicher Hausbeleuchtung stehen wie man will. Gerade amerikanische Vorgärten mit überdimensionalen leuchtenden Santas und anderen Leuchtelementen, die die Jahresbilanz an Lichtverschmutzung so mancher Vorstadt zum Ende des Jahres noch einmal verdoppeln, haben wir im Kopf, wenn wir an kitschige, Ressourcen verschwendende oder einfach nur unsagbar hässliche Außendeko zu Weihnachten denken. Aber angesichts meines Ausblicks, den ich ab fünf Uhr abends am liebsten mit herunter gelassenen Rollos kaschieren würde, nähme ich jeden bunten Rentierschlitten mit Regenbogen-Santa-Claus liebend gerne als Alternative. Jeder Balkon für sich wäre ja schon schwer mit meinem Stilgefühl zu vereinbaren, aber die Akkumulation an sich gegenseitig in Abscheulichkeit übertrumpfenden Lichterkreationen verursachte bei mir schon ab dem 1. Dezember den dringenden Wunsch nach einem baldigen Endes der Weihnachtszeit. Wie im Falle der Nachbarsfamilie von unten: Alle können innerhalb ihrer Wohnungen so viel Kitsch, Kopfschmerzen verursachende Leuchtelemente und Absurditäten an Farbkombinationen installieren, wie ihr Kreislauf auf Dauer aushält und sich bis zum Jahreswechsel in eine Art dystopische Weihnachtstrance versetzen lassen, aber bitte, liebe Nachbarinnen und Nachbarn: Denkt doch an die ästhetisch etwas Sensibleren unter Euren Mitmenschen!
Man stumpft zwar in vier Wochen vorweihnachtlicher kapitalistischer Dekoüberfrachtung etwas ab; der Anblick, der sich mir jeden Abend vor dem Eingang und im Treppenhaus bietet, fühlt sich dennoch jedes Mal wie ein ästhetischer Roundhousekick an. Nächste Woche gibt es dann wieder Neuigkeiten aus Kati WG, deren NachbarInnen hoffentlich mit etwas mehr Stil bei der Weihnachtsdeko gesegnet sind.
Dieser Kolumnen-Beitrag erschien bereits am 09. Januar 2020 auf der Website der Lautschrift. Es sei Euch gesagt: Die Deko-Situation in meiner Nachbarschaft hat sich seit letztem Jahr nicht unbedingt verbessert, sondern eher das Gegenteil ist der Fall.