Feminis:muss: Der Eisberg der Unterdrückung
Eigentlich bin ich ein ziemlich durchschnittlicher junger Mann. Ich kann vielleicht überdurchschnittlich gut mit den verschiedensten Menschen umgehen und schaff‘ es in der schwierigen Zeit, in der wir uns befinden und die durch Corona zu einer salopp gesagten »scheiß Zeit« geworden ist, positiv zu bleiben. Nur manchmal habe ich diese mulmigen Gefühle in der Magengrube – dystopisch und graue Wolken –, die ich oft nicht genau benennen kann. Ein paar dieser Momente möchte ich hier teilen und in Relation setzen.
von Julius Bachinger
Gefühl 1:
Benachrichtigungen: aus. Bildschirmzeit: begrenzt. Durch die Dokumentation »Das Dilemma mit den sozialen Medien« – zu sehen momentan auf Netflix –, das über die sozio-kulturellen Implikationen von Sozialen Medien aufklärt, versuche ich gerade, meinen Medienkonsum einzuschränken. Bevor ich es gesehen hatte, dachte ich, dass ich schon einigermaßen gut informiert sei.
Gefühl 2:
Letztes Jahr hat Prof. Dr. Schellnhuber am Dies Academicus gesprochen. Einerseits war die Rede des Klimaforschers sehr mitreißend und vermittelte das Gefühl, dass die Welt noch zu retten sei. Andererseits wurde die Notwendigkeit des Handelns viel drastischer dargestellt, als ich es erwartet hatte. Auch bei diesem Beispiel dachte ich bereits vor der Rede, dass ich ganz gut aufgeklärt sei. Auch seit diesem Erlebnis habe ich noch mehr auf meinen Einfluss auf die Umwelt geachtet.
Gefühl 3:
Durch eine gemeinsame Erinnerung an die letzte Silvesternacht hat mir meine Mitbewohnerin erzählt, dass sie sich immer, wenn sie nachts allein unterwegs ist, nicht sicher fühle. Diese Angst wurde mir von mehreren weiblichen Personen in meinem Umfeld, unter anderem aber auch von meiner 60-jährigen Mutter, bestätigt. Eine Freundin erzählte, sie telefoniere oft mit einer befreundeten Person, wenn ihr Gruppen oder einzelne Männer entgegen kämen. Ich persönlich hatte noch nie Angst, wenn ich in Regensburg allein unterwegs war und hatte mir auch noch nie Gedanken darüber gemacht. Meine männlichen Freunde haben mir das größtenteils bestätigt. Diejenigen, die sich anders geäußert hatten, wurden alle schon einmal Opfer eines versuchten Überfalls in Berlin.
All diese Beispiele stellen allerdings nur die Spitze eines Eisbergs dar, der sich über Jahrtausende hinweg aus Diskriminierung, Unterdrückung und Ungleichheit formiert hat.
Ich habe versucht, möglichst viele unterschiedliche Eindrücke zu gewinnen, weshalb ich nicht glaube, allzu sehr von meiner »sozialen Blase« beeinflusst zu sein. Handlung, Aktivität und Zivilcourage und auch individueller Einfluss, so scheint mir, ist mir bei diesen persönlichen Problemen und Erfahrungen nicht möglich. Denn all diese Einzelfälle weiten sich zu einer strukturellen Problematik aus, die in flächendeckender Diskriminierung und Unterdrückung mündet.
Aber ich muss etwas tun. Kann ich überhaupt etwas tun?
Ich glaube, es ist naiv zu denken, auf eigene Hand strukturelle Probleme lösen zu wollen. Durch individuelle Einflussnahme trägt man* aber vielleicht schon einen kleinen Teil dazu bei, die Welt minimal besser zu machen. Man* kann natürlich auch Aufklärung von Personen und Aktivismus generell als wichtigen Faktor anführen. Denn der allgemeine Lösungsansatz, nämlich der Feminismus, hat einen globalen und gesamtgesellschaftlichen Charakter. Zum Durchsetzen dieses Gleichberechtigungsversuches sollte man* also vereinfachen, möglichst viele Menschen informieren und überzeugen, dass die negativen Folgen jede*n betreffen. Dann braucht man* – zumindest in funktionierenden Demokratien – nur noch eine Mehrheit der Bürger*innen hinter sich – und zack – kann man* alles ändern. So die Theorie.
Es gibt allerdings mächtige Akteur*innen, die sich gegen die Befreiung von Bildschirm, fossilen Brennstoffen und des Patriarchats einsetzen. Hauptsächlich aus Motiven, wie Macht und finanziellem Profit. Hier gewinnen meine Beispiele, die die Gesamtheit von struktureller Diskriminierung darstellen sollten, an besonderer Bedeutung. Denn wenn sich diese Einzelfälle zu einer Gesamtheit aus Betroffenen, auch im kollektivgesellschaftlichen Verständnis, ausweiten lässt, wird das schiere Ausmaß von Unterdrückungsmechanismen deutlich. Denn die Unterdrückten sind dabei gegenüber den Unterdrückern in der Mehrzahl – wie so oft im Laufe der Geschichte.
Diese Erkenntnis erleichtert die Aufklärung meiner Meinung nach immens. Denn wenn der Teil des Eisbergs anerkannt wird, der sonst immer mundtot unter Wasser steht, wird vielleicht irgendwann der ganze Eisberg der Diskriminierung deutlich.
Beitragsbild: © Patrick Perkins on Unsplash