10 Jahre Arabischer Frühling – und jetzt?
»10 Jahre Arabischer Frühling – und jetzt?« – Unter diesem Motto diskutierten Franz Maget, Berater des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) für den Maghreb und Ägypten, und Martin Schulz über Bilanz und Zukunftsperspektiven einer krisenerschütterten Region bei der Online-Vorstellung von Magets gleichnamigen Buch, zu der die Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung München und Regensburg am 13. November 2020 einluden. Der Arabische Frühling jährt sich zum zehnten Mal und das betrifft nicht nur die arabische Welt.
von Hannah Ickes
Die Veranstaltung, an der 181 Zuhörer*innen teilnahmen, um mit Franz Maget, der jahrelang SPD-Abgeordneter im Bayerischen Landtag und von 2016 bis 2018 Sozialreferent an den Deutschen Botschaften in Tunis und Kairo war, und dem ehemaligen Kanzlerkandidaten und SPD-Vorsitzenden Martin Schulz zu diskutieren, stellte sich die Frage, was schiefgegangen ist. Vor zehn Jahren, am 17. Dezember 2010, setzte sich der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi aus Protest gegen Polizeigewalt und Willkür selbst in Flammen und entfesselte damit eine Protestwelle, die schon bald auf die benachbarten arabischen Staaten überschwappte. »Das Volk will den Sturz des Regimes« , »Despoten an den Galgen« , »Arbeit, Freiheit und Würde« waren die Slogans des Arabischen Frühlings.
Wir sind nicht da, wo wir sein sollten
»Ich habe die Proteste der jungen Menschen damals als hoffnungsvolles Zeichen für den Aufbruch in Richtung freiheitliche Demokratie erlebt«, sagt die Moderatorin der Veranstaltung Eva Nagler. Doch das Resultat, das Maget auch in seinem Buch in mehreren Kapiteln skizziert, ist ernüchternd. Die Region ist mehr denn je von Unruhen und Instabilität geprägt: In Ägypten herrscht das Militär unter Al-Sisi, Libyen gilt als sogenannter failed state, in Syrien entwickelt sich der demokratische Aufstand zum Bürgerkrieg und der Jemen ist Schauplatz der größten humanitären Krise unserer Zeit. Das Königreich Marokko hat einige oberflächliche Veränderungen an der Verfassung unternommen, um die aufkeimenden Proteste zu ersticken. Einzig in Tunesien kam es zu demokratischen Reformen.
»Wir sind nicht da, wo wir sein sollten.«
Martin Schulz
Doch warum?
Die meisten Menschen leben noch immer in Armut
Schulz verordnet die Ursache modernisierungstheoretisch: »Weil die meisten Menschen noch immer in Armut leben und sich ihre wirtschaftliche Situation zuletzt oft noch verschlechtert hat.« So hätten die Demonstrant*innen in Ägypten, die in erster Linie eben nicht für Demokratie, sondern Arbeit, Freiheit und Würde demonstrierten, nach ausbleibender Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse wieder auf die für sie altbekannten Autokraten gesetzt. Wirtschaftlicher Fortschritt hinge kausal mit Demokratisierungsprozessen zusammen. Auch Maget stimmt dem zu und knüpft daran in seinen Handlungsempfehlungen, die er im Buch ausformuliert, an. Eine bessere wirtschaftliche Zusammenarbeit sei dringend erforderlich. »Nur so lässt sich verhindern, dass noch mehr […] in Schlauchboote steigen und eine gefährliche Reise über das Mittelmeer antreten.«
Es fehlt die Erfahrung mit Demokratie
Doch betont er auch, dass Demokratisierungsprozesse sukzessiv vonstattengingen. Den Menschen fehle meist die Erfahrung mit Demokratie. Man könne eben nicht ein Land einfach von einem Diktator befreien, Wahlen abhalten und habe dann ein demokratisches System. Gerade hier finde sich laut Maget die Ursache für die Ausnahme Tunesien. So verfügte Tunesien bereits vor Ausbruch des Arabischen Frühlings über eine zivilgesellschaftliche Ordnung: Es gab ein soziales Sicherungssystem und eine gesetzliche Krankenkasse. Auch wurde das zivilgesellschaftliche Engagement von freien Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gefördert. Doch auch unabhängige Medien, das Engagement von Frauen und säkulare Parteien gehören zu den Voraussetzungen für einen Wandel. Auch hieran orientiert Maget seine Handlungsempfehlungen. Bildung und vor allem politische Bildung müssten Teil der (deutschen) Entwicklungszusammenarbeit sein. Hier sieht er vor allem die Pflicht bei den politischen Stiftungen, aber auch die deutschen Schulen vor Ort spielten eine wichtige Rolle.
Die Sache mit der Religion
Trotzdem soll es nicht darum gehen, westliche Ebenbilder zu schaffen. In einem Gastbeitrag erläutert die Feuilleton-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung Sonja Zekri, wie der islamistische Fundamentalismus als »Abstoßreaktion« auf die westliche Kolonialgeschichte entstanden sei. Um die eigene »arabische« Identität zu betonen, grenze man sich radikal von den anderen ab und vermeide jegliche Ambiguität. Religion an sich – da sind sich Schulz und Maget einig – sei damit nicht das Problem. Nachhaltiger Fortschritt könne nur in Einklang mit der kulturellen Identität wachsen und diese sei in der arabischen Welt nun mal von der Religion geprägt. Das Problem sei der religiöse Fundamentalismus, der einem weltanschaulichen neutralen Staat gegenüberstehe. »Deshalb«, so Schulz, »ist die Debatte um die Islamfrage von zentraler Bedeutung für den Frieden.«
Unsere Nachbarn gehen uns an.
Der Appell ist klar. Wir als Individuen müssen über den Islam lernen. Was unsere Nachbarn umtreibt und was mittlerweile auch in den europäischen Ländern angekommen ist, – wie jüngste Entwicklungen zeigen – geht uns etwas an. Um den kulturellen Austausch zu fördern, schlägt Maget Städtepartnerschaften und Austauschprogramme vor. Wie wäre es zum Beispiel Marokko und Tunesien in das Erasmus-Programm aufzunehmen? Doch auch an die Europäische Union wenden sich die beiden Diskutanten.
»Es geht nicht, dass das Mittelmeer immer noch eine Systemgrenze darstellt.«
Martin Schulz
So sähe man schließlich, wie in dem Kapitel »Mare nostrum« beschrieben, von den marokkanischen Hafenstädten die spanische Küste. Maget spricht sich vor allem für eine engere Anbindung Marokkos und Tunesiens durch eine Weiterentwicklung des Assoziierungsabkommens von 1998 aus, aber auch die Frage von Corona-Rettungsschirmen wirft er in den Raum. Scharf wird er allerdings vor allem in zwei Punkten, die miteinander verflochten sind. Erstens verlangt er nach einer »wertegebundenen deutschen Außenpolitik« und hat dabei vor allem die deutschen Rüstungsexporte im Auge. Zweitens fordert er, dass die Union damit aufhöre »regelmäßig als Club miteinander rivalisierender Volkswirtschaften einzelner Mitgliedsstaaten aufzutreten.« Trotz der sozialdemokratischen Prägung dieser Forderungen, kann man sicherlich nicht bestreiten, dass sich die westlichen Länder in der Vergangenheit zu wohl mit den Autokraten in ihren Nachbarstaaten gefühlt haben.
Und was passiert nun mit dem Arabischen Frühling?
Nun stellt sich die Frage, was fernab von unserem Handlungsperspektiven in den arabischen Ländern passiert. Ist der Arabische Frühling, wie so häufig diskutiert, ein arabischer Winter? Maget betont, dass Demokratisierung ein Prozess ist. Ist die Zeit reif, werden sich vor allem die Jungen, die mit dem Arabischen Frühling groß geworden sind, erneut erheben – diesmal mit den Erfahrungen von 2010 im Gepäck – und für Arbeit, Freiheit und Würde kämpfen. Der Arabische Frühling ist erst der Anfang.
Beitragsbild: © Muhammad Ghafari