Lautstark: Neutral Milk Hotels ≫In The Aeroplane Over The Sea≪
Was haben Anne Frank, ein zweiköpfiger Junge und ein Piano, das mit Flammen gefüllt ist, gemeinsam? Sie alle sind Themen auf dem Album ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ der US-amerikanischen Indie-Folk Band Neutral Milk Hotel. Auf Papier scheint dies vielleicht keinen Sinn zu machen, für manch eine*n mag es sogar beim Hören befremdlich klingen, doch für alle, die sich auf eine surrealistische und von Wundern nur so strotzende Reise einlassen, erschließt sich durch dieses Album eine ganz eigene, neuartige Welt.
von Celina Ford
Manchmal stößt man auf Alben, die einfach so besonders und unkonventionell sind, dass sie wie eine Anomalie im musikalischen Kosmos und dadurch fast unwirklich erscheinen. ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ fällt genau in diese Kategorie von Alben. Das zweite und letzte Album der Band Neutral Milk Hotel, welche zuvor ihre EP ≫Everything Is≪ im Jahre 1995 und zwei Jahre darauf ihr erstes Album ≫On Avery Island≪ veröffentlichte, ist auf zweierlei Arten eine Anomalie. Einerseits wurde die Genialität von ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ erst einige Zeit nach der Veröffentlichung im Jahre 1998 wirklich erkannt. Auch der Status eines Klassikers der 90er-Undergroundszene wurde dem Album relativ spät zugesprochen. Andererseits sind die Themen, denen sich die insgesamt elf Songs widmen, vielleicht mit ≫Schuld≪ daran, dass das Album jahrelang wie ein versunkener Schatz auf dem Meeresboden vor sich hinschlummerte. Das Schicksal der Anne Frank, die sich während des zweiten Weltkriegs in Holland vor der Herrschaft der Nationalsozialisten versteckte, ist nicht gerade Chartmaterial.
Doch wie sieht es mit dem Sound von Neutral Milk Hotel aus? Die Band um Jeff Mangum lässt sich grob als Indie-Folk einordnen. Durch ihre Lo-Fi Aufnahmetechnik entsteht ein ganz intimer und zugänglicher Sound, der an die Atmosphäre eines Wohnzimmerkonzerts (R.I.P Konzerte) erinnert. Neutral Milk Hotel bedienen sich jedoch nicht nur einer Akustikgitarre und einem Schlagzeug – typische Instrumente für Indie-Folk. Die Band benutzt auch für das Genre eher untypische Instrumente wie eine singende Säge und teilweise auch Blasinstrumente. Musikalischer Anker ist aber definitiv Mangums hohe und nasale Stimme, die teilweise vom Singen ins Rufen überschlägt. Bei dieser Stimme gibt es kein ≫geht schon≪. Entweder mag man sie oder man muss etwas Durchhaltevermögen beweisen. Auf ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ fügen sich jedoch alle Puzzleteile – die Musik, die Themen und Mangums Stimme – zum ersten (und letzten Mal) perfekt zusammen und kreieren eine folkig-punkige-psychedelische Aura.
Doch nun zu den Texten, denn von ihnen geht die eigentliche Magie des Albums aus. Würde man einen roten Faden suchen, der alle Songs thematisch verbindet, wäre das noch am ehesten die Vergänglichkeit der Jugend. Doch so wirklich kann man das nicht sagen, dazu sind die Lyrics zu abstrakt. Der Kitt, der das ganze Album zusammenhält, ist meiner Meinung nach die Art und Weise, wie Mangum seine Beobachtungen festhält. Meistens fühlt es sich an, als würde man einem Kind dabei zuhören, wie es seine Umgebung vollkommen fasziniert beschreibt. Manchmal überkommt einen aber auch eine ganz seltsame, nostalgische Stimmung, die sich in etwa so anfühlt, wie das Albumcover aussieht (die Abwandlung einer Postkarte vom Anfang des 20. Jahrhunderts). Diese Mischung aus kindlicher Überraschung, Nostalgie und auch einer gewissen Traurigkeit trifft einen in Kombination mit den simplen Arrangements genau ins Herz. Die Anfangszeilen von ≫The King of Carrot Flowers Pt. 1≪ lesen sich beim ersten Mal wie ein surreales Gemälde von Salvador Dalí, beim zweiten Mal kann man sich bereits jedoch gut vorstellen, wie diese Zeilen der Phantasie eines Kindes oder infantilen Jugendlichen entsprungen sein könnten:
When you were young
You were the king of carrot flowers
And how you built a tower tumbling through the trees
In holy rattlesnakes that fell all around your feet
And your mom would stick a fork right into daddy’s shoulder
And dad would throw the garbage all across the floor
As we would lay and learn what each other’s bodies were for
Vor allem der Text des Titelstücks auf ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ lässt erkennen, dass Mangum nicht nur über kindliche Faszination schreibt. Er spinnt den Faden weiter und stellt fest, dass sich die Zeit für niemanden aufhalten lässt und alle Menschen schließlich altern müssen:
And one day we will die
And our ashes will fly from the aeroplane over the sea
But for now we are young
Let us lay in the sun
And count every beautiful thing we can see
Love to be
In the arms of all I’m keeping here with me
Trotzdem sind es die Zeilen über Anne Frank, die einen am meisten berühren. So auch Jeff Mangum, der bereits während der Arbeit für ≫On Avery Island≪ das weltberühmte Tagebuch des jungen Mädchens las, welches ihn so berührte, dass er tagelang weinte und seine Fantasien, sie retten zu wollen, auf ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ textlich verarbeitete. So handeln ≫Holland, 1945≪, ≫Communist Daughter≪ und ≫Oh Comely≪ von ihrem Schicksal:
I know they buried her body with others
Her sister and mother and 500 families
And will she remember me 50 years later
I wished I could save her in some sort of time machine
Bands wie Bright Eyes, The Mountain Goats oder auch Arcade Fire gaben in verschiedenen Interviews an, vom simplen Klang des Albums und den surrealen und teilweise auch provokativen Texten beeinflusst worden zu sein. Als das Album dann Anfang der 2000er Jahre vor allem auf Internetmusikplattformen, wie das /mu/-Board auf 4chan, immer populärer wurde und auch das Albumcover in gewisser Art und Weise zu einem Meme verkam, wurde Mangum die Aufmerksamkeit zu groß. Er erlitt einen Nervenzusammenbruch und beendete das Musikprojekt Neutral Milk Hotel. Obwohl seit 1998 keine neue Musik mehr erschienen ist, spielt die Band nun hin und wieder vor Publikum. In Anbetracht der Tatsache, dass Mangum selbst das kleinste bisschen Aufmerksamkeit zu viel ist, könnte man ihn als den J.D. Salinger der Musik bezeichnen. Auch Salinger reichte ein Buch, nämlich ≫The Catcher in the Rye≪ (zu dt. ≫Der Fänger im Roggen≪), um den Legendenstatus zu erreichen und sich als Folge fast komplett aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen.
Auch wenn man sich nicht vorstellen kann, auf welche Ideen Neutral Milk Hotel noch so gekommen wären, hätten sie denn weitergemacht, bietet ≫In The Aeroplane Over The Sea≪ genügend Material, das man noch jahrzehntelang interpretieren könnte und einen über die wundersame Welt in Jeff Mangums Kopf staunen lässt.
Hier noch zwei Songs zum Reinhören:
Beitragsbild: Classic Album Sundays