Lautstark: »IC3PEAK« – Ein schreckliches russisches Märchen
Die E-Boy/-Girl/Goth Ästhetik ist mittlerweile ziemlich totgeritten und fest im Mainstream verankert. Künstlerinnen wie Poppy, Grimes oder Billie Eilish genießen äußerst hohe Popularität und schockieren mit ihrem Auftreten höchstens die prüdesten Ecken unserer Gesellschaft. Man könnte meinen, das russische Duo IC3PEAK würde in dieselbe Kerbe schlagen und sei aufgrund des übersättigten Marktes keiner weiteren Rede wert. Jedoch gibt es einen Unterschied: Sie sind aus Russland.
von Elias Schäfer
IC3PEAK (gesprochen »icepeak«) wurde von der Sängerin und Videokünstlerin Anastasia Kreslina, genannt Nastya, und dem Producer und Multiinstrumentalisten Kolya, der bürgerlich Nikolai Kostylev heißt, Ende 2013 in Moskau gegründet. Von Anfang an sahen sie sich nicht als herkömmliches Musikduo, sondern als audiovisuelles Projekt, das experimentelle elektronische Musik mit kunstvollen Videos und sonstigen Visuals verbinden will. Anfangs trieben sie sich noch im Dunstkreis des damals in Russland aufkommenden Witch House Genres herum, das Chopped-and-Screwed, also stark verlangsamten und bearbeiteten Hip-Hop, Drone und wavige House Musik mit Themen des Okkulten und des Horrors verband, um eine sehr düstere und, natürlich, edgy Wirkung zu erreichen. Da Russland allgemein etwas später dran ist, was Trends aus dem Westen angeht, und sie dann auch noch landesmäßig verwurstet, kam die 90er-Jahre Rave Kultur des Westens erst Mitte der 2000er dorthin und wurde erst mit der Zeit richtig populär, vor allem in Underground Clubs. Dadurch, dass die durchschnittliche russische alternative Jugend hauptsächlich vom »no future«-Denken und einer depressiven Grundstimmung geprägt ist, ist es kein Wunder, dass Musik mit solch einem Tenor direkt viele AnhängerInnen fand, was sich zuerst mit dem Erfolg von US-amerikanischen Emo-Rappern und anderweitig düsteren Musikern wie Lil Peep, Ghostemane oder $uicideboy$ zeigte – die Russland allesamt als ihr Lieblingstourland betitelten – und schließlich auch eine pulsierende heimische Musikszene hervorbrachte.
»This World Is Sick«
Während die bisher genannten KünstlerInnen aufgrund ihrer Ästhetik und der gut produzierten Musik hierzulande größere Erfolge feiern, sind sie absolut kein Politikum. Sie fallen auf durch ihre Fashion, Emotionen, den oft künstlich erzeugten Shock-Value sowie ihre stilistisch ansprechenden Musikvideos. Eine wirkliche Aussage hat deren Musik jedoch meist nicht. Das soll keinesfalls einen Kritikpunkt darstellen, da auch eine rein ästhetische Zugangsart zur Musik gut und gerne großartig sein kann, doch das ist eben der Punkt, der IC3PEAK von Emo/Goth-RapperInnen, Dreap-Pop KünstlerInnen und Party RaverInnen unterscheidet: Von letztgenannteren wird niemand in ihrem Heimatland bei Konzerten von Sicherheitskräften gestört, ihre Konzerte werden nicht abgesagt und sie wurden beispielsweise wohl auch noch nie so lange in Nowosibirsk festgehalten, bis sie ihre Show spielen konnten. Kurzum: IC3PEAK halten mit ihrer politischen und gesellschaftskritischen Texten nicht hinter dem Berg. Bis dahin war es allerdings ein etwas längerer Prozess.
Als IC3PEAK mit ihrer Musik anfingen, waren eher EDM und Dubstep lastige Witch House Produktionen mit auf Englisch gesungenen, aber unverständlichen und extrem hohen Vocals ihr Metier, womit sie zwar erste Erfolge hauptsächlich im Ausland feierten, aber nicht wirklich den Durchbruch schafften. Das Witch House Genre bietet eben nur begrenzt viele Möglichkeiten. Erst der Wandel hin zur Konzentration auf russische Texte, mehr gesangliche Abwechslung und die Inkorporation von Hip-Hop typischen Beats ab dem 2017er Album »Сладкая жизнь« (Sladkaja zhizn’/Süßes Leben) und das dazugehörige Video zu »Грустная сука« (Grustnaja suka/Traurige Bitch) brachten ihnen nicht nur Millionen von Klicks, sondern die Aufmerksamkeit vieler neuer Fans, der nihilistisch eingestellten russischen Jugend und auch die des russischen Staates. Direkt gingen sämtliche politische und klerikale Moralapostel auf die Barrikaden und IC3PEAK wurden zum kontroversesten russischen Musikexport seit des gespielt lesbischen und anfangs noch minderjährigen Mädchenduos t.A.T.u. Anfang der 2000er. Die ebenfalls erfolgreiche Single »This World Is Sick«, das seitdem den letzten komplett englischen Output der Gruppe darstellt, wurde kurz darauf nachgelegt und damit auch die Marschrichtung besiegelt, die IC3PEAK danach nehmen sollte: Nastyas Vocals, die zwischen halbgeflüstertem Sprechgesang, kinderliedgleichen hohen Tönen und furienhaften, hysterischen Schreieinlagen fluktuieren, treffen auf Kolyas elektronische, teils melodische, teils noisige Beats, die noch mit ballernden 808s und Witch House Einlagen aus der Anfangszeit gespickt werden.
»Сказка«, »До свидания« und Probleme mit dem Gesetz
Das Studioalbum »Сказка« (Skaska/Märchen) von 2018 bestätigte all das nochmal und brachte vieles, was beim vorhergehenden Album noch etwas roh beziehungsweise unfertig klang, auf einen gemeinsamen Nenner. Interessant ist vor allem das Einbringen klassischer russischer Folklore in Verbund mit Horror-Themen und Kritik am allgemeinen derzeitigen Zustand Russlands. Die Ästhetik der beiden wandelt sich vom eher typischen, modernen edgy Instagram Style zu einer Mischung aus russischer Tradition und Goth: Nastya sowie Kolya sind komplett blass geschminkt mit maximal etwas Rot auf den Wangen, um eine puppenhafte Ausstrahlung zu bekommen, und ziehen meist etwas schlichteres Schwarzes an. Nastya verbindet das Ganze noch mit traditionellen geflochtenen Zöpfen, die beispielsweise statt mit einem Haargummi mit Stahlketten fixiert werden. Dazu wird im Video von »Сказка« eine Horrorwelt aufgebaut, die alte sowjetische Trickfilme ins absolut Skurrile zieht und auf eine sehr abgedrehte Weise das Leben im postsowjetischen Russland der 1990er metaphorisiert, was eine äußerst instabile und von Kriminalität geprägte Zeit war, von der das Land sich nur langsam und stellenweise erholt.
Auf eine ganz andere politische Stufe wird ihre Message im Video zu »Смерти Больше Нет« (Smerti bolshe net/Es gibt keinen Tod mehr) gebracht, in dem Nastya sich vor dem Moskauer Weißen Haus mit Kerosin übergießt, die beiden vor Lenins Mausoleum rohes Fleisch verzehren, einen makaberen Zaubertrick vor der Basilius-Kathedrale aufführen oder vor dem FSB (russischer Geheimdienst) Hauptquartier auf den Schultern von schwerbewaffneten Einheiten sitzen und sich gegenseitig in die Hände klatschen. Zeilen wie »Ich gehe auf die Straße um einen Kater zu streicheln, aber ihn überfährt ein Polizeiauto« oder »Hier ist es üblicherweise kalt und die Menschen böse« geben die allgemein kühle Art von RussInnen sowie die Tristesse wieder, in die russische Kinder innerhalb von halb heruntergekommenen grauen Häuserblocks hineingeboren werden. Spätestens in der Hook, in der Nastya, eine ausgebildete klassische Sängerin, melodisch die Worte »Zusammen mit den anderen wirst du am Platz zusammengebunden« rezitiert. Dieser Clip dauert nicht einmal drei Minuten und stellt vieles dar, was in Russland seit dem Ende der Sowjetunion falsch läuft; innerhalb von fast zwei Jahren stehen die Clickzahlen bei knapp 47 Millionen.
Diesen kontroversen Clips folgten natürlich extrem kontroverse Schlagzeilen: IC3PEAK wurden quasi zu einer nationalen Bedrohung erklärt, Rap von Wladimir Putin als »sozial gefährlich« bezeichnet und in der Folgezeit machte sich das Duo ihrer selbstgegebenen Beschreibung als »audiovisuelle Terroristen« alle Ehre. Mehrere Konzerte wurden entweder abgesagt oder durch Sicherheitskräfte massiv gestört, Nastya und Kolya selbst wurden mehrere Stunden in Nowosibirsk festgehalten, damit sie keinen Auftritt hinlegen können und es wurde alles versucht, die Ausbreitung ihrer Popularität zu stoppen; die Verbreitung durch das Internet ließ sich aber nicht aufhalten. Nach einer Schwangerschaftspause seitens Nastya meldeten sich IC3PEAK mit einem Knall zurück:
Am 27. Februar 2020 luden sie das Video zu »Марш« (Marsch) auf YouTube hoch, das in 24 Stunden über eine Millionen mal angesehen wurde, und kündigten ein neues Album an. In diesem Video wird das Erziehen von Kindern zu Soldaten sowie Kriegstreiberei an sich und abermals die Eintönigkeit und Aussichtslosigkeit des Lebens in Russland kritisiert. Kinematographisch ist es auch einfach sehr gut gemacht, was vor allem hervorzuheben ist, da Nastya und Kolya alles selbst produzieren. Kurz nach der Veröffentlichung des Albums »До свидания« (Do swidanija/Auf Wiedersehen), auf dem sich mittlerweile Größen des Hardcore-Raps wie Ghostemane oder Zillakami als Features tummelten, kam auch die zweite Singleauskopplung »Плак-Плак« (Plak-plak/Heul-heul) auf YouTube, die sich diesmal weniger mit russischer Politik befasste als mit häuslicher Gewalt und Kindern, die in zerrütteten Familien aufwachsen (was nichtsdestotrotz auch ein gravierendes Problem in der russischen Gesellschaft darstellt). Im Video selbst tötet die von Nastya dargestellte Frau ihren gewalttätigen Ehemann, da sie den Missbrauch nicht mehr aushält, während das Kind ihre Eltern in Form eines Puppenspiels beobachtet. Abermals schlug das Video hohe Wellen und wurde an einem Tag eine Millionen mal angeklickt, weshalb das Ende der Popularität für IC3PEAK noch lange nicht erreicht ist, solange sie seitens der Politik keinen Riegel vorgeschoben bekommen.
Klar: Themen wie solche, die IC3PEAK ansprechen, sind im Westen schon lange Gang und Gäbe und schocken niemanden mehr wirklich. Was jedoch die streng konservative und kontroversenhassende russische Gesellschaft betrifft, erweisen IC3PEAK der dortigen Musikszene einen enormen Dienst, da sie Freiheit und Leben riskieren, um nicht nur auf Missstände aufmerksam zu machen, sondern um aufrüttelnde und kreative audiovisuelle Konzepte salonfähiger zu machen. Auf das Niveau, welches IC3PEAK immer wieder neu aufzeigt, hat es nämlich bisher kein russischer Act geschafft.
Hier noch ein paar Beispiele für diesen »audiovisuellen Terror« (es lohnt sich, bei jedem Video die richtig übersetzten Untertitel anzumachen).
Leider gibt es zu folgendem Lied noch kein Video, aber es ist mein absoluter Favorit, weshalb ich es hier auch teilen muss:
Beitragsbild: Threshold Magazine