Lautstark: Code Orange – Die Abrechnung mit einer erbarmungslosen, digitalen Welt

Lautstark: Code Orange – Die Abrechnung mit einer erbarmungslosen, digitalen Welt

Mitte März veröffentlichte die fünfköpfige Hardcore-Band Code Orange ihr viertes Album ≫Underneath≪. Ohne großes Nachdenken kann man bereits nach einmaligem Hören feststellen: Dieses Album wird eines der besten Alben der 2020er Jahre sein. Ein Horror-Soundtrack für unsere
digitalisierte Welt, die genauso brutal ist, wie Code Orange sie musikalisch darstellt.

von Celina Ford

Anscheinend dreht sich in meinem musikalischen Kosmos viel um Punk. Schon in einem früheren Beitrag versuchte ich, Punk und vor allem seinen Nachfolger, den Post-Punk, mithilfe einiger Alben zu erklären und den Genre-Appeal, der für mich sehr groß ist, darzustellen. Und mit dem heutigen Beitrag geht es genau in die andere Richtung der Punk-Evolution: Hardcore. Obwohl Code Orange viel, viel, viel mehr sind als ≫nur≪ eine Hardcore-Band, sind ihre Wurzeln fest in diesem Subgenre verankert. Wo der Post-Punk die softere, emotionalere und experimentellere Seite des Punk darstellt, ist Hardcore-Punk quasi das genaue Gegenteil. Hardcore, oder kurz HC, drehte in den 1980er Jahren, vor allem in den USA, den Lautstärkeregler bis zum Anschlag auf. Härtere Riffs, schnellere Drumparts und Vocals, die sich wie akustische Faustschläge anfühlen. Parallel zur Musik entwickelte sich auch die Hardcore-Subkultur, die sich vor allem durch ihren politischen Aktivismus auszeichnet. Als Aushängeschild des Hardcore wird oftmals die Straight-Edge-Kultur angesehen, die für einen absolut nüchternen Lebensstil steht: Kein Nikotin, keine Drogen, kein Alkohol. Viele, die Straight-Edge für sich beanspruchen, leben zudem vegetarisch oder vegan und verzichten auf flüchtige Bettgeschichten. Hier lautet die Devise: Ich möchte meine Probleme mit einem klaren Kopf angehen. Zu den wichtigsten Vertretern des Genres und zugleich den bedeutendsten Einflüssen in den frühen Tagen von Code Orange (die meisten Mitglieder der Band sind Straight-Edge) zählen unter anderem Minor Threat, Black Flag, Youth of Today, Earth Crisis und Hatebreed.

Von Code Orange Kids zu Code Orange

2008 gründeten Drummer und Sänger Jami Morgan, Bassistin/Gitarristin und Sängerin Reba Meyers und Eric „Shade“ Balderose, ebenfalls an der Gitarre, in Pittsburgh, Pennsylvania, die Band Code Orange Kids (eine Anspielung auf die orangefarbene Stufe in einem Warnsystem). Nach einigen Wechseln im Line-Up stieß Joe Goldman 2011 zur Gruppe und übernahm den Bass. Obwohl alle Mitglieder faktisch noch in der High-School waren, tourte die Gruppe bereits mehrmals jährlich und fand immer mehr Anhänger. Nach einigen EPs und Splits mit Bands wie Full of Hell erschien 2012 das Debütalbum ≫Love is Love/Return to Dust≪ auf dem Label Deathwish Inc., das vom Converge-Sänger Jacob Bannon betrieben wird und im Underground eine ziemlich große Nummer ist. Bereits das Debüt wurde für seine Brachialität gelobt. 2015 erschien dann mit ≫I Am King≪ das zweite Album der Band. Musikalisch bewegte es sich weiter vom klassischen Hardcore-Sound weg und nahm Elemente des Metalcore auf. Dieses Album war gleichzeitig das erste nach der Namensänderung zu Code Orange. Es ging beim Weglassen des ≫Kids≪ nicht unbedingt darum, jedem klarzumachen, dass man älter wird, sondern eher, dass sich hier eine merkliche musikalische Veränderung anbahnt. Parallel zu Code Orange veröffentlichten drei Mitglieder der Band das Album ≫Supersonic Home≪ ihrer Nebengruppe Adventures. Ein Album, welches 90er-Jahre Emo und Pop-Punk vermischt und ebenfalls auf viel Begeisterung stieß.

© Hysteria Magazine
Balderose, Goldman, Landolina, Meyers und Morgan.

Und dann kam 2017 nach einem Label-Wechsel und der Erweiterung der Band um einen dritten Gitarristen (Dominic Landolina, vorher Gitarrist bei Adventures) ≫Forever≪. Was man hier zu hören bekam, war unglaublich. Ohrenbetäubende Drumparts, animalische Vocals und eine so nihilistische und apokalyptische Atmosphäre, dass diese die Farbe Schwarz zu einem Hellgrau verblassen lässt. Spätestens dieses Album machte auch den letzten Zweiflern klar, dass die Reise für Code Orange bei Weitem noch nicht zu Ende ist. Auf dem Album hörte man auch zum ersten Mal Synthesizer, denen sich Gitarrist Eric Balderose immer mehr verschrieben hat. Auch Songs wie ≫Bleeding in the Blur≪ eröffneten mit Reba Meyers im Fokus der Band die Möglichkeit, Einflüsse des Grunge aufzunehmen. Nicht, dass es für das Metal-Genre wirklich etwas bedeutet, aber ≫Forever≪ wurde sogar bei den Grammys in der Kategorie ≫Best Metal Performance≪ nominiert. Gewonnen haben zwar Mastodon, aber es zeigte, dass Code Orange eine wirkliche Chance haben, aus der absoluten Underground-Nische auszubrechen. Mit ihrer harten Arbeit und dem ständigen Touren schafften sie es, bei WWE NXT einen Auftritt zu erhaschen und sich sogar einen Platz als Vorgruppe auf den Europa-Tourneen von System of a Down und Slipknot zu erspielen.

Eine neue Ära extremer Musik: Underneath

Hier wären wir also beim eigentlichen Thema des Beitrags. Mitte März, kurz vor dem globalen Lockdown, veröffentlichten Code Orange ihr viertes Album ≫Underneath≪. Ein Album, dass es schafft, ohne erhobenen Zeigefinger und die bereits zu Tode getrampelten Klischees über die Gefahren der Digitalisierung unsere ständig verbundene, jedoch gleichzeitig unglaublich einsame und brutale digitale Welt zu kritisieren, indem man den Fokus auf die psychologischen Aspekte legt. Das Album beginnt mit dem Intro ≫(deeperthanbefore)≪. Möchte man die Alben vergleichen, wäre ≫I Am King≪ ein Slasher-Film, ≫Forever≪ ein psychologischer Thriller und ≫Underneath≪ ein Sci-Fi-Horrorfilm, den ≫(deeperthanbefore)≪ perfekt einläutet. Geräusche, die man nicht klar ausmachen kann und statisches bis weißes Rauschen, dass sich so brutal und erbarmungslos in Intensität und Lautstärke hochschraubt, dass man am liebsten die Kopfhörer abreißen will. Hält man aber die eine Minute der akustischen Hölle durch, wartet auf einen eine ohrenbetäubende Stille und eine Stimme, die einem das Motto des Albums ins Ohr flüstert: ≫Let’s take a good look at you≪. Nahtlos schließt sich an den Intro-Track der Song ≫Swallowing the Rabbit Whole≪ an. Jedes Mal, wenn ich den Song höre, denke ich mir: ≫Wie um alles in der Welt haben sie das gemacht?≪.

Unzählige Ebenen von Gitarren, harten Synths und die Vocals von Jami Morgan treiben den Song nach vorne, bis dieser an zwei Stellen plötzlich eine einsekündige Pause einbaut, was sich ungefähr so anfühlt, als würde man nach dem ersten Teil des Songs einen plötzlichen Gehörschaden erlitten haben. ≫Swallowing the Rabbit Whole≪ führt zudem das Motiv des Albums ein, nämlich sich einen Kaninchenbau der Selbstreflexion hinabzubegeben. Der dritte Song des Albums lautet ≫In Fear≪ und beschreibt in seinem Text die ständige Angst davor, auf Social Media analysiert und kritisiert zu werden. Musikalisch ist dieser industriell angehaucht und endet mit dem Sample einer Frau, die in Todesangst ≫Oh My God≪ schreit, was sich immer grotesker und desorientierender verzerrt. ≫You and You Alone≪ beginnt mit einem mörderischen Riff und erreicht im Mittelteil eine fast ätherische Ebene mit verwaschenen Vocals von Reba Meyers. Der Song handelt von der Einsicht eigener Fehler und der damit verbundenen Frustration. ≫Who I Am≪, der erste Song mit Meyers’ Stimme als Anker, handelt von Stalking. Immer wieder sind Samples von Ricardo López eingebaut, der in den 1990er Jahren die isländische Sängerin Björk stalkte und schließlich Suizid beging, nachdem er ihr eine Briefbombe schickte. Ein unglaublich bedrückender und nachdenklicher Song, der mit der Feststellung ≫Frankly, my life ain’t worth shit≪ endet und so nochmal einen Eindruck in die düstere Gedankenwelt von López gewährt.

© Metal Hammer

Mit ≫Cold.Metal.Place≪ bricht dann das absolute Chaos aus. Zahllose übereinander getürmte Gitarrenparts und stotternde, harte Synths, die die musikalische Entwicklung von Eric Balderose kennzeichnen, präsentieren laut der Band den kalten Charakter des Albums und der digitalen Welt. ≫Sulfur Surrounding≪ ist eine viel benötigte Pause. Die Alternative-Metal/Grunge-Nummer, wiederum mit Meyers als Leadsängerin, ist vielleicht das, was man als eine Ballade im Code Orange-Stil bezeichnen könnte. Zum Ende hin fügt sie sich jedoch dem restlichen Klangbild des Albums und nimmt mit Morgans Vocals und den Synths von Balderose an Intensität zu, was sich auch in Meyers’ Performance widerspiegelt. Thematisch geht es um toxische Beziehungen. ≫The Easy Way≪ hat einen starken Nine Inch Nails-Einfluss, was sich im synthlastigen und bombastischen Chorus bemerkbar macht. ≫Erasure Scan≪ ist vielleicht sogar noch chaotischer als ≫Cold.Metal.Place≪. Der Song beginnt mit einem Schuss und ist ein wahrer Cyber-Hardcore Track. Hart, schnell und brutal beschreibt er die Gedanken eines Amokläufers und dessen eigentliches Verlangen nach menschlicher Nähe. ≫Last Ones Left≪ schließt sich lückenlos an und ist im Vergleich zu den anderen Songs etwas geradliniger. Lyrisch beschreibt er das starke Gemeinschaftsgefühl der Band, die sich selbst als ≫thinners of the herd≪ (Verdünner der (musikalischen) Herde) verstehen. ≫Autumn and Carbine≪ ist eine weitere Nummer, die sehr in die Richtung Alternative-Metal geht. Hier besingt Meyers die Schattenseiten der Musikindustrie, vor allem in Bezug auf Frauen. ≫Back Inside the Glass≪ ist ein rasender Hardcore-Song, der sich so anhört, als könnte er jeden Moment implodieren. ≫A Sliver≪ ist ein weiteres Alternative-Metal Experiment, in dem es um persönliche Unsicherheiten im Kontext der ständigen Vergleiche auf Social Media geht. Die Bridge stellt mit ihren sehr elektronischen und futuristischen Passagen jedoch wieder eine Verbindung zum eigentlichen Charakter des Albums her. ≫Underneath≪, der Titelsong und der letzte des Albums, fasst alle Themen – Angst, Wut, die Loslösung von sich selbst, Oberflächlichkeit – perfekt zusammen und endet auf einer triumphalen Note.

Warum ist ≫Underneath≪ also bereits jetzt eines der besten Extreme-Music-Alben des Jahrzehnts? Weil niemand so klingt wie Code Orange. Man kann zwar gewisse Einflüsse, wie die bereits genannten Acts aus dem Hardcore oder Bands wie Nine Inch Nails, Godflesh, Fear Factory, Alice in Chains oder Type O Negative erahnen, es hört sich jedoch nicht nach einem Mischmasch dieser Bands an. Zudem ist die Arbeit von Balderose wirklich erstaunlich. Das Album hört sich nicht wie so viele an, die die Gleichung ≫Band + Keyboard≪ verfolgen und daher eher zwei nebeneinander herlaufende Elemente haben. Hier hört sich alles nach einem großen Ganzen an. Und diese Innovationslust ist genau das, was modernem Metal fehlt und dem Genre – so schmerzhaft es ist – den Todesstoß gibt. Da macht sich auch der HipHop-Einfluss auf Produktionsebene bemerkbar, indem man mit vielen Layers und Samples arbeitet. Allerdings ist diese Innovationslust bei Code Orange nicht nur auf die Musik begrenzt. Da das
Album mitten im Lockdown veröffentlicht wurde, entschloss sich die Band, ihre Record-Release Show nicht abzusagen. Stattdessen streamten sie das Konzert in einem leeren Club auf der Streamingplattform Twitch.

Jeder kleine Meilenstein sei dieser Band vergönnt. Jemand, der so hart arbeitet (das Album wurde in der Vorproduktion bereits haargenau von der Band ausgelegt, aufgenommen und gemischt und danach erst von weiteren Producern bearbeitet), sollte bekannter sein. Vor allem bei einer Band, bei der man davon ausgehen kann, dass sie jedes ihrer Alben toppen wird.

Hier noch ein paar Songbeispiele:


Titelbild: Rolling Stone

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