Lautstark: Bruce Springsteen – »Hammersmith Odeon London ’75«

Lautstark: Bruce Springsteen – »Hammersmith Odeon London ’75«

Ein Studioalbum ist das eine, eine Live-Performance etwas völlig anderes. Bruce Spingsteen ist definitiv einer dieser Musiker*innen, die für die Bühne geboren wurden. Deshalb möchte ich die dieswöchige Ausgabe der Lautstark-Kolumne seinem vierten Live-Album »Hammersmith Odeon London ’75« und seiner legendären Londoner Show auf der »Born-to-Run«-Europa-Tour 1975 widmen.

von Lotte Nachtmann

Heute sind Bruce-Spingsteen-Konzerte – ich war selber schon auf zweien –Massenveranstaltungen, die Stadien füllen. Manch ein*e Musiker*in oder auch in Jahre gekommener Fan beschwert sich heutzutage gerne mal über fehlende Nähe zum Publikum, die die Auftritte in kleinen Konzerthallen in den Siebzigern auch bei den ganz großen Musikgöttern noch garantiert haben. Aber Bruce Springsteen hat eine ganz besondere Kraft, wenn er da oben (oder unten, je nach Platz im Stadion) auf der Bühne steht: Er offenbart seinen Fans seine Seele. Es sind nicht die Momente, in denen das gesamte Publikum »Born in the USA« mitgröhlt (1975 war es vermutlich eher noch »Born to Run«). Es ist nicht das vor Schweiß tropfende Hemd, das ein deutliches Zeichen dafür ist, dass der inzwischen 70-Jährige Springsteen in Konzerte an und über seine körperliche Leistungsfähigkeit hinaus geht.

Songtexte wie Briefe an seine Mutter

Springsteen ist dafür geboren worden, auf der Bühne alles zu geben. Er springt auf Roy Bittans Piano, hüpft herum wie ein hyperaktives Eichhörnchen auf Koks und jammt regelmäßig bis zur Erschöpfung. Das war in den Siebzigern nicht anders als es heute ist, nur 2020 eben vor mehr Publikum und auf Bühnen, die so lang sind, dass im Laufe eines drei-Stunde-Konzertes (wir erinnern uns daran: Der Mann ist 70 Jahre alt) schon mal ein Halbmarathon zusammenkommt. Vieles davon ist Show, sicher; die Dynamik, mit der er sein Publikum mitreißt, kann aber auch die/der schärfste Kritiker*in des durchkapitalisierten Musikbusiness‘ nicht bestreiten.

Aber die wirkliche Magie eines Springsteen-Konzerts entsteht nicht bei den Posen oder den Sprechchören. Sie entsteht in den Momenten, in denen der Künstler aus New Jersey am Piano sitzt, verschwitzt und abgekämpft. Er erzählt (manchmal minutenlang) von seinem Leben an der East Cost und Anekdoten aus dem Musikerdasein. Und dann fängt er an, eine seiner Balladen zu singen: Musikalisch bricht er sie meist völlig runter auf Stimme und Piano. Beides reicht aber auch, um eine Stimmung im Stadion oder in der Konzerthalle zu verbreiten, als lese er aus Briefen an seine Mutter vor. Er offenbart sich jedes Mal neu in den Texten über die schuftende Arbeiterklasse, die junge Leute am Strand von Atlantic City und den ewigen Autofahrten seiner Protagonisten auf der Flucht vor den eigenen Gefühlen. Man schaut dann so tief in seine Seele, wie es sonst nur eine Mutter kann, die nicht fragen muss, was mit ihrem Sohn los ist, wenn er mit gesenktem Blick vor ihr steht.

Wenn eine Wollmütze zum besten Freund wird

Das Konzert in der Hammersmith Odeon Konzerthalle 1975 zeigt meiner Auffassung nach genau diese beiden Seiten Springsteens. Er selbst hatte in seiner 2016 erschienenen Autobiographie geschrieben, dass er vor seinem Auftritt in London wahnsinnig aufgeregt war, anfing an seiner gesamten Karriere zu zweifeln (vermutlich ein Zustand, den Musiker*innen alle drei Tage durchleben) und die Erwartungen aufbauenden Werbeplakate für die Show von den Wänden riss. Diese Nervosität merkt man dem damals 26-Jährigen gerade während der ersten Zeilen von »Thunder Road« auch gehörig an. Ganz alleine steht er da vorne auf der dunklen Bühne, nur mit seiner Mundharmonika und versteckt unter einer riesigen Wollmütze, die ihm noch für einige weitere Songs Schutz bieten sollte. Der kleine Junge aus New Jersey, der so aussieht, als würde er nicht ganz begreifen, wie er es auf die Bühne des Hammersmith Odeons geschafft hat, legt dann aber mit den nächsten Songs seine Schüchternheit ab, oder überspielt sie zumindest sehr gut mit dem aufgekratzten Showman, der er auch heute noch ist. Das bieten auch Songs wie »She’s the one«, »Born to Run«, »Rosalita« oder »Detroit Medley «an, die einfach Bock machen mitzutanzen, auch wenn man 45 Jahre später nur Spotify anschmeißt. Springsteens Freund, die gigantische Wollmütze, bleibt immer noch am Start und dient auch weiterhin als Versteck oder Ablenkung von nicht ganz wieder gewonnener Selbstsicherheit. Nach und nach schüttelt der frisch gebackene Rockstar aus den USA, der sich in seiner Rolle noch sichtlich unwohl fühlt, die Unsicherheit des mittellosen Nachwuchsmusikers ab, der sich von Gig zu Gig hangelte und über einem Surfboard-Geschäft wohnte. Langsam aber sicher legt Springssteen eine Art Seelenstriptease auf der Bühne hin, parallel zu der Tatsache, dass er immer mehr Kleidungsstücke verliert (keine Sorge: es bleibt bei seinem besten Freund der Wollmütze und der Lederjacke). Die gehauchten Verse von »Spirit in the Night« sind ein erstes Indiz für diese Wandlung; »Backstreets« und »Jungleland«, deren Magie alltäglicher Szenen von Freundschaft und Sommerabenden man sich auch bei den Studioversionen nicht entziehen kann, ebnen dann den Pfad für das meiner Meinung nach Grand finale. Der vorletzte Song lässt einen beinahe erfrieren angesichts der Nähe, die man auch über vier Jahrzehnte später noch verspürt. Diese Live-Version von »For you«, von dem viele vermutlich nur die Coverversionen kennen, erzählt vom Suizid einer (oder der) Freundin des Protagonisten und wie er sich selbst die Schuld dafür gibt. Wenn Springsteen singt »and it was finally my turn to play the God« muss man kurz den Atem anhalten, da man glauben könnte, er hätte genau das gerade gestern Abend erlebt.

Ein Querschnitt durch Springsteens Frühwerk

Musikalisch kann man das Konzert im Hammersmith Odeon, das heute Hammersmith Apollo heißt, als Best of von Springsteen frühen Hits interpretieren. Im Mittelpunkt stehen natürlich die inzwischen zu Rockklassikern gewordenen Songs seines Durchbruchsalbums »Born to Run«, das auf der im Übrigen nur vier Konzerte umfassenden Europa-Tour beworben werden sollte. »Thunderroad« und »Born to Run« wechseln sich mit mehr oder weniger bekannten Hits seiner ersten beiden Alben »Greetings form Asbury Park, N.Y.« und »The Wild, the Innocent and the E-Street Shuffel« ab. Alle drei Alben gehören zu Springsteens Frühwerk; den ersten beiden (weniger erfolgreichen) Platten merkt man jedoch deutlich an, dass sie unter anderen Rahmenbedingungen entstanden sind als »Born to Run«. Sie sind von mehr Leichtigkeit, dem Ostküstensound der Siebziger und einem melancholischen Erzähler geprägt, der eben mal aufschreibt, was er bei einem Ausflug in seinem Cadillac sieht. In »Born to Run« hat Springsteen alles gelegt, da ihm sonst das Aus seiner musikalischen Karriere gedroht hätte. Es ist immer noch das Storytelling der ersten beiden Alben zu hören, aber alles ist viel dichter: die Texte und die Musik, Hall of Sound nennt man das. Alle Worte sind nun genau an dem für sie vorgesehenen Platz, wohl überlegt, als sei jeder Satz als Anfang eines Jahrhundertromans gedacht.

Ihr merkt: Ich liebe diese Musik. Kurz gesagt: Sie ist mitreißend und tiefgreifend zugleich. Manchmal sogar fast seelenerschütternd. Und diese Momente der Gebanntheit finden sich noch einmal eindrücklicher in den Live-Versionen der zum Teil über vierzig Jahre alten Studio-Aufnahmen. Im simplen Zusammenspiel von Stimme und Piano, die es auch einem schüchternen Youngstar nicht ermöglichen, seine Seele zu verstecken. Und dazu muss man die Performance im Hammersmith Odeon 1975 nicht einmal sehen. Springsteen hat nämlich sogar die musikalische Kraft, diese Atmosphäre nur mit den Tonmitschnitten in Dein Wohnzimmer zu transportieren.

Meine Tipps zum Reinhören:

»For you«

»Backstreets«

»She’s the One«

Bildquelle: ©bol.com

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