Wie »Anarchy in the UK« zu »Isolation« wurde: Rebellion gegen das Ich
In dieser neuen Ausgabe der Lautstark-Kolumne soll es um den Nachfolger des ewigen Rebellen Punk gehen: den Post-Punk. In einer Art »Starterpack« werden Euch fünf großartige Alben vorgestellt, die nicht nur die Geschichte und Einflüsse des Genres vorstellen, sondern auch zeigen, warum sich heute noch viele Bands diesem Stil verschreiben.
von Celina Ford
Die Anfänge der Rebellion
Right now ha, ha, ha, ha, ha / I am an anti-Christ / I am an anarchist / Don’t know what I want / But I know how to get it / I want to destroy the passerby / ‚Cause I want to be anarchy / No dogs body / Anarchy for the UK rotzt Johnny Rotten, Sänger der vielleicht legendärsten Punkband aller Zeiten, den Sex Pistols, bereits 1977 in das Mikrofon. Diese Zeile fasst im Grunde alles zusammen, um was es den britischen und amerikanischen Punks in den 1970er Jahren ging: Nihilismus, Auflehnung gegen das Bürgertum, die Anprangerung der Heuchelei – im Grunde dem gesamten System den mit schwarzen Nagellack lackierten Mittelfinger entgegenstrecken. Punk war der künstlerische Ausdruck der Entfremdung, der Resignation und der Angekotztheit der Jugend in den 1970er Jahren. Zum Stil gehörte es, mit der gewöhnlichsten Bandkombo – Gitarre, Schlagzeug, Bass und Gesang – und oftmals ungelernten MusikerInnen (Stichwort DIY!) zu spielen.
Die HörerInnen bekamen aggressiv-politische Texte in einem ungeschliffenen Stil und mit drei-Akkord-Gitarrenriffs untermalt um die Ohren gehauen. Melodien waren den meisten Bands egal – wie eigentlich so ziemlich alles. Das drückte sich auch im Kleidungsstil der Subkultur aus, die von Konservativen zu der Zeit als schlichtweg verwahrlost angesehen wurde. Nieten, Sicherheitsnadeln, Karomuster, Springerstiefel und der ikonische Irokesenschnitt zeichneten den Lebensstil der Punks aus. Alles ging – Hauptsache, man grenzte sich ab.
Punks Brüderchen betritt die Bühne
An welcher Stelle kommt jetzt jedoch Post-Punk ins Spiel? Post-Punk war die logische, emotionale Weiterentwicklung des Punk. Die Wut gegen das System, das Rausschreien von Parolen, der Hass – sprich alles Äußerliche – kehrte sich bei vielen Bands, die sich an den einfachen Arrangements abgearbeitet hatten, ab 1979 (hier verschwimmen dieÜbergänge der Genres) nach innen. Die Wut richtete sich nun gegen das Ich. Das System wurde zwar oftmals weiterhin angeprangert, der eigenen Position darin wurde aber eine wichtigere Rolle zugesprochen. Statt Parolen stellten die Bands nun nachdenklichere Fragen. Und der Hass? Tja, der wurde zu Selbsthass. Auch die musikalische Aufstellung veränderte sich. Zwar spielte hier jetzt nicht auf einmal ein Orchester, aber die übliche Kombo wurde in vielen Bands um Keyboards oder Synthesizer erweitert. Das schnelle Tempo der Punkbands halbierte sich, und auch der Melodie wurde wieder etwas mehr Raum gegeben. Dazu kam, dass die Mode schlichter wurde – und vor allem dunkler.
Und ab genau diesem Zeitpunkt begann sich das Genre in unendlich viele Subgenres zu zersplittern: No-Wave, Dark Wave, Gothic Rock und New Wave entwickelten sich. Post-Punk wurde sozusagen zum »Godfather of Alternative Music«. Und obwohl das Genre jetzt schon gut vierzig Jahre auf dem Buckel hat, ist es bei Weitem nicht tot. Auch heute noch werden Bands, die mit schlichten Rocksongs, echolastigen Elementen, nachdenklichen Texten, aber auch einer gewissen »Screw You!«-Attitüde daherkommen, Post-Punk Bands genannt. Aber genug gefaselt. Nach dieser kleinen Einführung in die Geschichte des Genres gibt es nun endlich Musik auf die Ohren. Die folgende Auswahl soll zeigen, wie sich Post-Punk innerhalb von vierzig Jahren gewandelt hat und warum das Genre heute vielleicht aktueller denn je ist.
»Closer« von Joy Division (1980)
Eines der ersten Alben des Post-Punk und das vermutlich beste der Proto-Post-Punk Band Joy Division. Im Kontext von Post-Punk war Ian Curtis der perfekte Sänger: Introvertiert, nachdenklich, von Selbstzweifeln geplagt und trotzdem immer etwas verärgert. Und obwohl »Unknown Pleasures«, das Debütalbum der Band, bekannter ist, ist »Closer« weiter weg vom klassischen Punk, viel experimentierfreudiger und deshalb das inoffizielle Aushängeschild des frühen Post-Punk.
Kennzeichnend für das Album sind kalte Synthesizereinsätze, viel (viel, viel) Hall, Curtis’ ikonische Baritonstimme, Peter Hooks hoher Bass und Bernard Sumners schlichte Gitarrenakkords. Stephen Morris’ Schlagzeugarbeit bildet das Rückgrat der Platte und gibt dem ganzen Spiel etwas mehr Kraft und Dringlichkeit. Das Aushängeschild der Platte sind aber natürlich Curtis’ Texte, die ein wahrer Seelenstriptease sind. Tragischerweise wurde »Closer« die letzte Platte von Joy Division, nachdem sich Curtis das Leben nahm. Doch Joy Division lebt weiter: Die restliche Band steht als New Order, eine der wichtigsten New-Wave-Bands der 1980er Jahre, noch immer auf der Bühne.
In Joy Divisions »Isolation« reinhören.
»Turn On The Bright Lights« von Interpol (2002)
»Turn On The Bright Lights« ist das Debütalbum der New Yorker Post-Punk-Revival Band Interpol. Markenzeichen der Band: Ihr »Fetisch« für Anzüge. Bisher gab es kein Konzert, dass die New Yorker in etwas anderem als einem Anzug gespielt hätten. Mit Bands wie Franz Ferdinand oder den Arctic Monkeys gehörten sie zu den großen Indie-Bands der frühen 2000er Jahre.
Interpol verschrieben sich jedoch dem ganz klassischen, Joy Division-esquen Sound. Konkret heißt das: Viel Hall, viel Pathos, kein großes Rumgeschrammel und viel Tiefgang in den Texten. In den zehn Songs auf dem Album singt Paul Banks über Liebe, das Leben in New York und von der ein oder anderen Lebensweisheit. Persönlich konnte ich Interpol 2017 bei der Tour zum fünfzehnten Jubiläum von »Turn On The Bright Lights« live in der Muffathalle in München sehen, wo sie das Album von Anfang bis Ende durchspielten. Nicht nur ich, sondern viele andere Menschen um mich herum haben vor Freude geweint.
In Interpols »Obstacle 1« reinhören.
»Deathconsciousness« von Have A Nice Life (2008)
Das Doppelalbum »Deathconsciousness« der Band Have A Nice Life aus Connecticut war eines der ganz frühen Underground-Klassiker der 4chan / mu / Board Gemeinde. Die beiden Freunde Tim Macuga und Dan Barrett nahmen das Album daheim auf, um ihren Gedanken einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Heraus kam ein Mix aus Post-Punk, Ambient Music, Drone und Shoegaze.
Es ist sehr schwer zu beschreiben, warum genau dieses Album so faszinierend ist. Vielleicht ist es dem Umstand geschuldet, dass es aus dem Nichts erschienen ist. Vielleicht liegt es an den ganzen Sagen, die sich um das Album ranken (beispielsweise sollen alle Aufnahmen an einem Zeitpunkt verloren gegangen sein). Vielleicht liegt es aber auch daran, dass es so innovativ und so eigensinnig ist, dass man sich schwer tut, etwas Vergleichbares zu finden. Woran es auch liegt, es zeigt jedenfalls, wie wandelbar Post-Punk doch sein kann.
In Have A Nice Lifes »Bloodhail« reinhören.
»Climax« von Beastmilk (2014)
Das Album »Climax« der finnischen Band Beastmilk dringt schon sehr stark in die Genres Dark Wave und Gothic Rock ein. Die Songs sind teilweise sogar etwas poppig, aber immer mit genug Riffs unterlegt, dass es sie trotzdem weit genug vom Mainstream weghält. Textlich geht es um Macht und Kontrolle, Liebe und die ein oder andere apokalyptische Anspielung fehlt auch nicht. »Climax« klingt so, wie man sich finnische Winter vorstellt.
In Beastmilks »Death Reflects Us« reinhören.
»West of Eden« von HMLTD (2020)
Eine britische Band, die den europäischen Geist am Leben hält: Zwei Briten, drei Franzosen und ein Grieche bilden das Sextett HMLTD (Hate Music Last Time Delete). »West of Eden« ist in dieser Liste zwar am Weitesten vom klassischen Post-Punk entfernt, zeigt jedoch, wie es ganz aktuell um das Genre steht. HMLTD vermischen Art Punk, Dance, Glam Rock und eben Post-Punk zu ihrem ganz eigenen Ding. Exzentrische Looks, Texte über alle Formen der Liebe und ein sarkastisches Verhältnis zu der Politik des »Westens« machen »West of Eden« zum vielleicht Innovativsten, was Post-Punk zur Zeit zu bieten hat.
In HMLTDs »To The Door« reinhören.
Beitragsbild: © TREBLE