Mitternachtskino #1 – Throw Away Your Books, Rally in the Streets
Jede*r hat wahrscheinlich irgendwo einen Stapel der Schande an etwaigen unbenutzten Medien, egal ob analog oder digital, herumliegen, der einfach nicht weniger zu werden scheint. Dieser will natürlich auch mal reduziert werden, bevor er komplett ins Unermessliche steigt. Ein guter Ansporn, beispielsweise meine Film-Watchlist langsam abzuarbeiten, kann das Schreiben eines neuen Formats sein: In meinem »Mitternachtskino« stelle ich in unregelmäßigen Abständen Filme vor, die man als Geheimtipps bezeichnen könnte. Den Anfang meiner Review-Reihe macht ein experimenteller japanischer Film aus dem Jahre 1971.
von Elias Schäfer
Noch eine kurze Erklärung zum Format vorneweg: Die hier vorgestellten Filme können alt oder neu sein, ein bestimmtes Genre spielt auch keine Rolle – das einzige, was diese Filme verbindet, ist, dass sie unkonventionell und abseits des Mainstreams zu finden sind, ganz im Sinne der Midnight Movie Vorstellungen der 60er und 70er Jahre. Oft beinhalten solche Streifen allerdings explizite Darstellungen jeglicher Art, weshalb ich hier ein Content Warning aussprechen muss, falls jemand lieber nichts über sensible Themen lesen möchte.
»Nobody knows who I am. My name’s never been in the papers.«
Throw Away Your Books, Rally in the Streets, im Original Sho o Suteyo Machi e Deyō, ist nicht nur ein sperriger Name für einen Film, sondern auch ein wirklich sperriger Film an sich. Die 137-minütige Mischung aus Kunstprojekt, Agitprop, Gesellschaftskritik, Familiendrama, Coming of Age und Musikvideo vom japanischen Avantgardisten Shūji Terayama dreht sich hauptsächlich um den 22-jährigen Eimei Kitamura, der aus einer mittellosen Familie kommt: Seine Mutter Ine ist tot, seine Oma Tome eine kleinkriminelle Diebin, Vater Masaharu ein Kriegsverbrecher und seine kleine Schwester Setsu hat mit niemandem Kontakt außer mit ihrem weißen Hasen, zu dem sie eine nicht ganz so normale Beziehung pflegt. Eimei fühlt sich wie der Einzige, der aus seinem Leben etwas machen, und nicht, wie er im hervorragenden, vierte Wand brechenden Intro erwähnt, ein namen- und geldloser Niemand bleiben will. Und so folgt man ihm auf einer Reise quer durch den Versuch, erwachsen zu werden. Alles, was er jemals im Leben versucht hat, ist gescheitert, egal ob seine Ambition, Boxer zu werden oder irgendwelche Jobs, die er freiwillig wieder verlassen hat. Allzu viel Glück wird Eimei auch nicht mehr erleben: Er besucht eine Prostituierte, guckt ab und zu bei einer örtlichen Fußballmannschaft vorbei, verliert sich selbst immer mehr im Laufe des Films und findet sich dann resigniert wieder, als er merkt, dass er aus dem vorherrschenden System nicht ausbrechen kann.
Die Art Theatre Guild und die Japanese New Wave
All das würde aus Throw Away Your Books… zwar ein tragisches, vielleicht auch interessantes Drama machen, doch der Film wäre, einfach so, nicht wirklich der Rede wert. Das, was diesen Streifen zu Kunst macht, ist die unkonventionelle Art, wie er gedreht und geschnitten wurde. Regisseur Shūji Terayama gehörte der Japanese New Wave an, einem von den 1950ern bis zu den 1970ern bestehenden losen Bund aus einigen japanischen Filmemachern, die am ehesten mit der französischen Nouvelle vague verglichen werden könnte und als zweite große einflussreiche Filmbewegung Japans neben dem Pinku eiga (»Pinker Film«, eine Mischung aus Erotik und Avantgarde) gilt. Diese Zusammenkunft aus jungen, kreativen, künstlerisch aktiven Regisseuren sollte das japanische Kino wiederbeleben und revolutionieren, was sie vor allem durch neue Schneide- und Filmtechniken erreichen wollte. Anfangs war diese Bewegung von konventionellen Filmstudios künstlich erschaffen, doch je mehr sie sich entwickelte, desto unabhängiger und organischer wurde sie, vor allem, als die Art Theatre Guild anfing, sämtliche Filme der JNW zu produzieren und zu veröffentlichen. Die Filme behandelten dabei vorher verpönte Themen wie Gewalt, Sex, Perspektivlosigkeit, jugendliche Subkulturen oder politischen Aktivismus. Als berühmte Beispiele der Nūberu bāgu, wie die Gruppierung in Japan genannt wurde, sind hier neben Throw Away Your Books… auf jeden Fall noch Toshio Matsumotos Funeral Parade of Roses (Bara no Sōretsu, 1969), der sich mit Transsexualität beschäftigt, oder das existenzialistische, symbolgewaltige Drama Woman in the Dunes (Suna no Onna, 1964) von Hiroshi Teshigahara zu nennen.
Absurd, surreal, wild, ernst
Was also Throw Away Your Books, Rally in the Streets von anderen Filmen seiner Zeit, und auch allgemein, absetzt, ist nicht die wirklich interessante Story rund um die Familie Kitamura. Es sind die scheinbar willkürlich gesetzten Vignetten, die auf den ersten Blick von der Geschichte komplett losgelöst sind. Dabei werden zum Beispiel Datinggesuche einsamer Männer mit verschiedenen Fetischen gezeigt, jugendliche Punks und Hippies, die Alkoholismus, Drogenkonsum und freier Liebe nachgehen und komplett anarchisch durch die Stadt laufen, ein Interview mit einer Prostituierten… – ein für Autoritäten und Bürgerliche sichtlich unbequemer Querschnitt durch den Dreck unter den Fingernägeln der japanischen Gesellschaft. In diesen Vignetten wird nicht nur auf unkonventionelle Kinematographie gesetzt, sondern hauptsächlich auf Farben: Mal ist das Bild fast total entsättigt, mal leuchtet es in grün, mal in violett. Dazu begleitet die Szenen einer der besten Soundtracks, den ich jemals in einem Film gehört habe, bestehend aus japanischen Proto-Punk Songs. Diese haben Texte wie »The university – who is it for? / The Turkish bath – who is it for? / The peace movement – who is it for? / The Pink Films – who is it for? / The skyjack – who is it for? / Masturbation – who is it for? / Dynamite – who is it for? / Your liberation – who is it for? / Your arrest – who is it for?«, zu denen dann zum Beispiel mitten auf einer belebten Straße ein herumhängender Boxsack in Form eines Penis von vorbeilaufenden Jugendlichen geschlagen wird.
Das ist auch schon der nächste Punkt, der den Film so großartig macht: Die Absurdität und die Surrealität vieler Momente. Die skurrilen Szenen kommen Schlag auf Schlag, dann wird das Tempo wieder herausgenommen, bevor abermals ein furioser Akt von jugendlicher Wildheit gezeigt wird. Dazwischen folgen traumhafte Sequenzen von selbstgebauten Flugzeugen, Eimeis Sex mit der Prostituierten oder der nackt auf einer Wiese mit ihrem Hasen kuschelnden Setsu. Ebenso wird stellenweise an japanisches Theater erinnert. Mal ist der Film absurd lustig und nimmt sich überhaupt nicht ernst, mal bekommt man mit, wie Setsu von der Fußballmannschaft in der Dusche vergewaltigt wird. Der Ernst und die Lächerlichkeit des Lebens geben sich hier abwechselnd die Klinke in die Hand.
»The film will be over soon, and no one will remember me.«
Die augenscheinliche Prämisse von Throw Away Your Books… ist es, sinnlos zu sein. Es werden verschiedene Ausschnitte aus irgendwelchen Momenten gezeigt, die schlussendlich vollkommen irrelevant zu sein scheinen. Darum muss man sich, wenn man sich den Film ansieht, allerdings nicht wirklich kümmern. Hier stehen eindeutig die Ästhetik und der Schockeffekt im Vordergrund, eigentlich reines L’art pour l’art – und davor, viel wichtiger, politische beziehungsweise gesellschaftliche Agitation. Die gezeigten Szenen schlagen den ZuschauerInnen das Filmmotto »THE CITY IS AN OPEN BOOK. WRITE ON ITS INFINITE MARGINS!« praktisch ins Gesicht. Throw Away Your Books, Rally in the Streets ist antikapitalistisch, anarchistisch, verbrennt als Statement die amerikanische Flagge, gibt die japanische Gesellschaft der Lächerlichkeit preis und verwendet die rebellierende Jugend als Stilmittel für sämtliche Ideen, die von erwachsenen Japanern nicht ausgesprochen werden dürfen.
Nach dieser Achterbahnfahrt durch sämtliche Gefühls- und Wahrnehmungswelten endet wieder alles beim desillusionierten Eimei Kitamura, der in einem letzten, aufrüttelnden Monolog nochmal die vierte Wand bricht, auf seine Anfangsworte Bezug nimmt und die bisherige Filmlandschaft zerpflückt. Und nein, das ist kein Spoiler. Man könnte über diesen Film so viel erzählen, wie man möchte, und doch wäre man von dem, was man dort zu sehen bekommt, immer noch überrascht. Das Visuelle und Symbolische besticht hier mehr, als viele Filme, die sich nur um eine bestimmte Story drehen. Man kann sich, selbst fast 50 Jahre nach seiner Veröffentlichung, immer noch in die Gedanken der Menschen hineinfühlen und die dort gezeigte Kritik auf unsere Gesellschaft anno 2020 beziehen. Deshalb ist Throw Away Your Books, Rally in the Streets meiner Meinung nach ein Meisterwerk, das nicht nur gesehen, sondern vor allem erlebt werden muss.
Bewertung: Fünf von fünf Penisboxsäcken.
Beitragsbild: © Art Theatre Guild