Silvester heißt Waldbewohner
Erst das Pflichtprogramm: Welches Outfit? Raclette oder Fondue? Obligatorisch immer dabei: die Dauerschleife von Dinner for One. Dann, der Jahreswechsel rückt näher, die Frage nach dem Feuerwerk. Tradition oder kann das weg?
Von Anika Freier
Acht! Sieben! Sechs! Fünf! …
Es geht los! Zu früh, aber immerhin eine der ersten bunten Lichtexplosionen am bis dahin dunklen Nachthimmel.
… Vier! Drei! Zwei! Eins! – Feuer frei – Prost Neujahr!
Eine herzliche Umarmung hier, ein romantischer Kuss da, ein freundliches Lächeln zu Fremden, beste Laune überall. Das Internet ist überlastetet, virtuelle Neujahrswünsche müssen warten – in der Zeit vielleicht ein Foto von dem Spektakel machen? Schnell, noch bevor die Stadt im Rauch versinkt? Denn: Wer liebt sie nicht, die Silvester-Selfies mit Lichtspiel im Hintergrund (Spoiler: Feuerwerk ist eher unfotogen), die Boomerangs, Sekt in der einen, Wunderkerze in der anderen Hand, ein wissendes Zuprosten an die Instagramgemeinde: Na, erlebt ihr gerade auch den schönsten Abend des Jahres?
Ein Zeitfenster von drei Tagen gibt es in Deutschland, um sich mit Skydances, Night Battle oder Pyro Family (jap, Böller-Spaß für Groß und Klein) und Ähnlichem einzudecken. Wer in Märkten einkauft, die mit Payback kooperieren, sammelt sogar 10-fach Punkte beim Kauf von Feuerwerkskörpern – yay! Der Verband der pyrotechnischen Industrie prognostiziert Ausgaben von landesweit 133 Millionen Euro – für Feuerwerkskörper, innerhalb von drei Tagen. Positiv daran ist lediglich, dass es 2016 und 2017 137 Millionen Euro waren, der Trend also vielleicht zurückgeht?
Nachdem 2019 nicht zuletzt durch Fridays for Future Umwelt- und Klimathemen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wurden, sollte mittlerweile auch der/die Letzte davon gehört haben, dass Feuerwerke nicht nur enorm viel Müll und Feinstaub produzieren, sondern auch für Tiere im Park, Wald oder daheim eine mittlere Katastrophe darstellen. Ganz abgesehen von den überlaufenen Notaufnahmen: illegale Feuerwerkskörper mit zu hoher Sprengkraft, spätes Wegwerfen nach dem Anzünden – ein Paradies des Nervenkitzels! Und vor allem abgesehen von den Menschen, die nur gerade der Fluglinie eines Böllers im Weg standen, die zuschauen wollten und auf einmal mittendrin waren. Die Stimmen, die ein Verbot von Feuerwerken fordern, werden zwar immer lauter – doch auf Verbote ist man hierzulande gerade gar nicht gut zu sprechen. Fliegen, Rasen, Fleischessen: Links-grün versiffte Verbotspolitik, das muss nun wirklich nicht sein, wenigstens die Böllerei, die soll bleiben, alles wie immer.
Bei einer repräsentativen Befragung des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der dpa sprachen sich 57% der Befragten für ein Verbot aus, nur 36% dagegen. 84% finden jedoch Gefallen am Silvesterfeuerwerk, 49% genießen den geselligen Aspekt. Ist es, vor diesem Hintergrund, wirklich so unvorstellbar, private Feuerwerke durch öffentliche zu ersetzen? Dass Menschen zusammen ins neue Jahr feiern können, ohne Angst haben zu müssen, von einem falsch abgefeuerten Böller erwischt zu werden? Ohne, dass Innenstädte im Müll geradezu versinken? Ein Feuerwerk, das veranstaltet wird von Menschen, die tatsächlich nüchtern sind und das Feuerwerk zu einem Kunstwerk machen? Tiere in den ersten 20 Minuten des neuen Jahres Stress ausgesetzt sind, aber eben nur dann, nicht schon die Tage davor und danach?
Tradition wird großgeschrieben, und doch sprach Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, im MDR Kultur jüngst dem Feuerwerk seine Legitimation durch ein Brauchtum, ein Relikt aus dem 16. Jahrhundert, ab. Böse Geister, so Zimmermann, könnten auch in öffentlich organisierten Feuerwerken vertrieben werden: »Es wäre weniger gefährlich. Es wäre weniger belästigend. Es wäre weniger umweltgefährdend. Und ich glaube, es wäre sogar noch schöner.«
Zumindest mit der derzeitigen Koalition wird es kein Verbot geben. Aber da wir – Weihnachten ist an Silvester traditionell erst eine Woche her – noch geübt sind in Besinnlichkeit, denken wir einfach mal an die Bedeutung des Wortes Silvester: Waldbewohner. Und diese profitieren wohl mit am meisten von öffentlichen Feuerwerken. Wenn das private trotzdem sein muss, lassen wir uns doch von unserem gesunden Menschenverstand leiten, lassen andere die Sektflasche für den Raketenstart leeren und passen auf Tiere und Menschen auf – letzteres lässt sich nebenbei sogar als ersten umgesetzten Neujahrsvorsatz verkaufen! So tragen wir alle unseren Teil dazu bei, dass Regensburg wenigstens nicht im menschengemachten Nebel versinkt und Silvester das Potential behält, wirklich zum schönsten Abend des Jahres zu werden.