Auftakt! – Ein Gespräch mit dem Dirigenten Arn Goerke
Im Gespräch mit Arn Goerke vom Symphonieorchester der Uni Regensburg unterhält sich unser Autor über berühmte Komponisten wie Brahms und Dohnanyi, Symphonien und die Arbeit als Dirigent.
Von Martin Schüttö
Lautschrift: Herr Goerke, seit diesem Wintersemester 2016/17 sind Sie als musikalischer Leiter der Universitätsorchester an der Universität Regensburg. Wenn Sie sich zurückerinnern an die Anfänge ihrer Begegnung mit Musik, welche Komponisten haben Sie als Kind gehört, mit welcher Musik sind Sie in Berührung gekommen?
Arn Goerke: Meine ersten Erinnerungen gehen sehr in Richtung Barockmusik. Besonders Bach habe ich viel gehört, empfand seine Musik früh als großartig und sehe das bis heute so – vielleicht immer mehr, je älter ich werde. Regelmäßig habe ich damals die Stadtbibliothek besucht und dort Schallplattenaufnahmen gehört, eigentlich alles was vorhanden war – natürlich bald weit über Bach und die Barockmusik hinaus. Auch viel Oper war bereits dabei. Irgendwie hatte ich offenbar als Kind, oder Jugendlicher, schon das Bedürfnis einen Überblick darüber zu gewinnen, was es an verschiedener Musik gibt.
Sie sprachen von Bach. Spielte er auch in Ihrem eigenen Musizieren eine große Rolle?
Auf jeden Fall. Ich lernte Klavier und Orgel und habe mich schon aus diesem Grund viel mit Bach beschäftigt.
Sie sind schließlich Dirigent geworden. Erinnern Sie sich an Dirigenten, die Sie besonders fasziniert haben?
Da ich in Berlin aufgewachsen bin, konnte ich Karajan in den Achtziger Jahren noch live erleben. Ich fand das immer toll, konnte aber möglicherweise das Singuläre dieses Dirigenten als Kind noch nicht richtig einschätzen. Seinen Nachfolger bei den Berliner Philarmonikern, Claudio Abbado, habe ich bewusster miterlebt und eindrückliche Erinnerungen an ihn. Das liegt auch sicherlich daran, dass mir das musikalische Schaffen dieses Dirigenten besonders am Herzen lag und liegt.
Können Sie sich an bestimmte Aufführungen erinnern?
Da möchte ich gerne zwei nennen. Ich habe als Probepianist damals mit einigen Berliner Chören gearbeitet, unter anderem auch dem Philharmonischen Chor Berlin. Dieser Chor sang bei dem Antrittskonzert Claudio Abbados als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker zwei Chorwerke. Vor der Pause wurde Le Roi des étoiles, der Sternenkönig, von Stravinsky zum Besten gegeben, ein Stück für Herrenchor und Orchester sowie ein Werk für Damenchor und Orchester, la damoiselle élue von Debussy. Nach der Pause schließlich spielten die Berliner Philharmoniker die 1. Symphonie von Brahms. Ein beeindruckendes Konzert.
»Für mich waren es Sternstunden, Abbado dabei beobachten zu können.«
Sie haben also das Antrittsstück Abbados übernommen? Schließlich spielen Sie mit dem Universitätsorchester auch die 1. Symphonie von Brahms.
Das fällt mir erst jetzt auf, wo Sie es sagen, hat aber nichts miteinander zu tun. Bei der Planung unseres Konzertes hat sich die Brahmssymphonie aus anderen Gründen angeboten. Um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Zu dem zweiten Konzert mit Abbado, von dem ich erzählen wollte, kam ich ebenfalls über meine Verbindung zum Chor. Das ECYO (Jugendorchester der Europäischen Union, Anm. d. Red.) spielte unter Claudio Abbado die Gurrelieder von Arnold Schönberg. Es waren sensationelle Aufführungen, in Berlin, Frankfurt und Wien. Für mich waren es Sternstunden, Abbado dabei beobachten zu können.
Zu Ihrer Arbeit als Dirigent: Wie lernen Sie Partituren? Nutzen Sie das Klavier oder erschließen Sie sich die Partitur durch reines Lesen, vielleicht durch Aufnahmen?
Zunächst lese ich. Ich versuche das Werk erst durch die Informationen zu erschließen, die der Komponist uns an die Hand gibt. Dabei ist auch die Form und Struktur für mich von großer Bedeutung. Das Klavier ist mir beim Studium ebenfalls eine große Hilfe. Erst dann lasse ich mich auch davon inspirieren, wie bereits andere Dirigenten ein Werk interpretiert haben.
Wie wichtig sind Ihnen dabei geistesgeschichtliche Hintergründe, also das Umfeld der Komposition und was der Komponist über die Musik geschrieben hat?
Sehr wichtig. Ein Werk in seinem großen Kontext zu sehen, ist eine elementare Voraussetzung für eine Interpretation. Seien es zeitgeschichtliche, oder auch persönliche Situationen im Umfeld des Komponisten.
Sie arbeiten zum ersten Mal mit einem Studentenorchester. Wie gestaltet sich die Arbeit mit dem Universitätsorchester, dirigieren Sie anders? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Passen Sie Ihre Schlagtechnik an?
Dirigentisch ändert sich nichts, die Musik bleibt die gleiche. Mit einem Studentenorchester gibt es möglicherweise andere Geschwindigkeiten beim Einstudieren. Bei einem Profi-Orchester fangen Sie in der Regel dienstags an zu probieren und freitags ist das Konzert. In der nächsten Woche spielen Sie schon wieder etwas Anderes. Hier gibt es aus verschiedenen Gründen andere Zeiträume. Wir probieren nur einmal die Woche und nicht zweimal täglich. Das Endergebnis muss aber deswegen nicht unbedingt von anderer Qualität sein.
Am 29. Januar spielen Sie ein Konzert mit Dohnanyis 1. Klavierkonzert, dass sie mit der Pianistin Sofja Gülbadamova aufführen werden. Nach der Pause gibt es die 1. Symphonie von Brahms. Beginnen wir mit dem sicherlich unbekannteren Werk: Dohnanyis Klavierkonzert ist ein frühes Werk, er komponierte es 1898, erst ein Jahr nach dem Abschluss seines Studiums in Budapest. Wie würden Sie diesen frühen Orchesterstil Dohnanyis beschreiben? Welche musikalischen Vorbilder sind zu erkennen?
Brahms muss sicherlich genannt werden. Auch ein Grund für das gemeinsame Erklingen beider Werke im Konzert. Man kann bei Brahms und Dohnanyi durchaus von gegenseitiger Wertschätzung sprechen. Zudem muss man Dohnanyi im Kontext des Dreigespanns mit Kodaly und Bartok sehen, von denen er sicher der traditionellste Komponist war. Das führt zu diesem üppigen, klang- und eindrucksvollen Orchestersatz. Für mich auch ein Grund das Stück auszuwählen, weil es einerseits sehr eindrucksvoll klingt, gleichsam anspruchsvoll ist, aber dennoch eine »lösbare« Aufgabe für das Orchester ist.
Wenn wir von hohem Anspruch an die Musiker sprechen, darf auch die Virtuosität des Klavierparts ein Thema sein. Es ist bekannt, dass Dohnanyi ein großer Pianist war und Liszt sicherlich als Vorbild für ihn galt. Auch als Lehrer ist er in die Musikgeschichte eingegangen. Ich möchte exemplarisch nur drei Schüler nennen: Der Pianist Géza Anda, György Cziffra, der die Virtuosität geradezu ins Übermaß steigerte, und auch Ferenc Fricsay, der Dirigent wurde. Wie drückt sich die Virtuosität im Klavierkonzert aus?
Das Konzert beginnt quasi mit zwei komponierten Doppelpunkten im Orchester, woraufhin jeweils eine große Klavierkadenz anschließt. Gleich zu Beginn wird also das Virtuose betont, was sich in unterschiedlichsten Formen durch das ganze Konzert zieht. Zum Teil auch mit sehr symphonischen Passagen kombiniert wird. Dohnanyi selbst war ein großer Improvisationskünstler am Klavier und hat einige Kadenzen, die in den ersten Aufführungen noch nicht aufgeschrieben waren, einfach improvisiert.
»Der musikalische Duktus drückt Ruhe und Größe aus, aber auch eine leise Wehmut«
Ich hatte beim Hören das Gefühl, dass Dohnanyi ein sehr starkes Gespür für Dramaturgie hat. Zum Beispiel am Ende des ersten Satzes: Lange Trillerpassage am Klavier, plötzlich wieder das erste Thema im Orchester, dann der Eintritt einer Solovioline, schließlich ein sehr romantisches Thema in der Klarinette… Diese starken Kontraste und Gegensätze scheinen mir typisch für seinen Stil zu sein.
Die Stelle am Ende des ersten Satzes, die Sie ansprechen, ist in der Tat bemerkenswert. Die Rückkehr des ersten Themas schließt diesen Satz scheinbar ab, und dann – quasi als Coda in der das Geigensolo eine Rolle spielt – kommt das Klarinettenthema, das mich immer ein bisschen an Wotans Abschied aus der Walküre erinnert. Der musikalische Duktus drückt Ruhe und Größe aus, aber auch eine leise Wehmut.
Brahms, dessen 1. Symphonie im zweiten Teil des Konzertes gespielt wird, bewunderte Dohnanyi sehr, besonders sein Klavierquintett in c-moll, für dessen Aufführung in Wien er sich nachdrücklich eingesetzt hatte.
Lassen Sie uns über die Brahmssymphonie sprechen. Brahms hatte große Sorgen, eine Sinfonie zu komponieren. Das Vorbild Beethovens schwebte wie ein Damoklesschwert über den Komponisten des 19. Jahrhunderts, sowohl Schumann, als auch Wagner, äußerten sich über die Schwierigkeiten nach Beethoven noch Symphonien zu schreiben, bewerteten seine Werke als Schlussstein, ein unüberwindliches Maß.
Erste Skizzen zu seiner C-Moll Symphonie fertigte Brahms bereits 1854 an, fertiggestellt und aufgeführt wurde sie erst 1876. Spürt man dieses lange Ringen um das Werk musikalisch?
Gute Frage. Ich finde, man hört das Ringen gar nicht und die Sinfonie ist ein großer Wurf, von einzigartiger Schönheit.
Also eine Geschlossenheit?
Absolut. Brahms hat selber gesagt, wie schwer es ist, eine Sinfonie nach Beethoven zu komponieren, weshalb es viele Menschen gibt, die nach Gemeinsamkeiten suchen. Es gibt auch Übereinstimmungen. Die Besetzung ist quasi gleich, obwohl man Brahms gerne mit zwei, drei Pulten mehr spielt. Die Bläserbesetzung bleibt trotzdem identisch. Auch motivische Verbindungen kann man feststellen, so die häufige Verwendung der berühmten drei Achtelnoten aus der Fünften. Auch die Tonart ist dieselbe wie bei der Fünften – beim Suchen findet man Details. Aber ich glaube, dass Brahms im Grundsatz völlig anders ist. Gerade Beethovens Fünfte oder dann auch die Neunte mit »Seid umschlungen Millionen« sind derart weltumspannende Werke, die nicht von ihrer Zeit, der Französischen Revolution, zu trennen sind. Brahms ist viel innerlicher, auch wenn es wuchtig daherkommt, wie zum Beispiel die Paukenachteln im ersten Satz. Aber gerade Momente wie das Hornthema aus dem vierten Satz, das Brahms in ein Albumblatt für Clara Schumann geschrieben hatte, sprechen dafür, dass es eine innerliche Musik ist.
Warum haben Sie sich speziell für die erste Symphonie von Brahms entschieden? Beim Moment der Innerlichkeit muss ich immer an das Cellothema am Beginn der zweiten Symphonie denken.
Ich habe mich nicht wegen der Innerlichkeit dafür entschieden. Zunächst passt diese Symphonie besonders gut zum dohnanyischen Klavierkonzert. Der Schluss des ersten Satzes des Klavierkonzertes mit dem Klarinettenthema und dem Geigensolo in E-dur, worüber wir gesprochen haben, begegnet uns zum Beispiel in ähnlicher Form auch im zweiten Satz der Sinfonie. Auch das mit der Quarte aufsteigende Motiv aus dem ersten Satz der Sinfonie findet sich ähnlich im Klavierkonzert wieder. Außerdem kannte ich das Symphonieorchester der Universität Regensburg noch nicht wirklich, als ich die Werke ausgewählt habe. Da schien mir die erste, mit ihrem größeren Bogen, irgendwie geeigneter.
Schon am Anfang der Symphonie ist es wichtig, dass die Phrase in den Celli gut hervortritt gegenüber den ersten Geigen.
Sie meinen die zweite? Vor diesem Detail hätte ich keine Angst gehabt. Aber insgesamt kann man mit der Ersten (im Sinne eines gemeinsamen Kennenlernens) besser einen gemeinsamen Atem finden.
Es hat also trotz seiner Geschlossenheit etwas öffnendes am Ende?
Da sind wir wieder bei Beethoven, bei der Fünften: Per aspera ad astra, von der Nacht zum Licht. Von c-moll kommend hin zu C-dur. Und das findet sich auch bei Brahms. Das sind natürlich Verbindungen, keine Frage. Und trotzdem ist Brahms schon einige Jahre später als Beethoven. Gerade wenn wir uns mit der Art des Musizierens beschäftigen, mit dem Romantischen, das es bei Beethoven so noch nicht gibt. Zum Beispiel das Spiel mit den Tempi. Es gibt sogar eine Aussage von Brahms, in der er sagt, Bülows Dirigat gefalle ihm nicht.Bülow wechselte sich mit ihm bei den Dirigaten auf einer gemeinsamen Tournee ab, weil Bülow zu sehr »gerade aus« dirigieren würde. Er fügte mit Selbstironie hinzu, ihm mache es mehr Spaß zu Drängen und zu Bremsen.
Dazu schrieb übrigens auch Clara Schumann im Zusammenhang mit der ersten Symphonie. Wenn er, Brahms, es selber dirigiere, dann zeige er einen besonderen Sinn für Phrasierung und dafür das Orchester zurückzunehmen, gleichsam aber auch nach vorne zu drängen. Eine schöne Verbindung zwischen Brahms und Clara Schumann.
Genau. Und gerade bei diesen Sachen, die mir am Herzen liegen, muss man darauf achten, dass man geschmackvoll damit umgeht. Es gibt eine Tradition verschiedene Themen auch agogisch unterschiedlich zu behandeln und dadurch Verbindungen und Gegensätze zu schaffen.
Dazu meine Frage: Mir ist aufgefallen, dass Brahms, gerade im Vergleich mit der Musik vor ihm sehr auf satztechnische Finessen ausgelegt ist, sehr intellektuell arbeitet, gleichzeitig aber auch überraschende Einfälle bietet. Im Finale gibt es eine Stelle, eine lange Pizzicatopassage, stringendo poco a poco übertitelt in den Streichern. Eine überraschende, zarte Passage nach dem wuchtigen Orchestersatz. Wie geht man mit solchen Stellen um? Hebt man sie besonders hervor oder ist das einordnen in ein Gesamt wichtiger?
Bei eben jener Stelle hat Brahms sehr genau geschrieben, was er möchte. Die Pizzicatostelle kommt zweimal vor, beim ersten Mal länger, beim zweiten Mal kürzer, und er schreibt sehr genau, was er möchte. Die ersten zwei Takte pizzicato ohne irgendetwas, es erscheint richtungslos. Bei der ersten Stelle dann im dritten und vierten Takt crescendo auf zur Taktmitte und wieder zu und stringendo poco a poco. Beim zweiten Mal zwei Takte weniger und stringendo molto. Das muss man unbedingt sehr ernst nehmen, wie Brahms es schreibt: die ersten beiden Takte quasi »nichts machen«, und dann erst die Tempo- und Dynamikänderungen beginnen. So erreicht man einen faszinierenden Effekt.
Ein Aspekt, der bei Brahms auch neu ist. Zuvor hatte man häufig viel weniger Angaben. Im Laufe des 19. Jahrhunderts steigert sich dann die genaue Bezeichnung, als Idealbeispiel dann schließlich Gustav Mahler, der alles haargenau bezeichnete und dem Dirigenten beispielsweise explizit vorschrieb, er solle an dieser Stelle nicht eilen. Gerade deshalb, weil er als Dirigent wusste, was man aus der Emotion heraus vielleicht gerne machen würde. Wie ist es bei Brahms? Bezeichnet er sehr viel oder ergibt sich das aus dem Notentext?
Also die Sachen mit den Tempi schreibt er natürlich nicht so detailliert rein, wie Mahler. Diese ergeben sich oder sind zum Teil Tradition. Aber Brahms ist in diesem Punkt schon auf dem Weg.
Eine Abschlussfrage: Welche zukünftigen Projekte planen Sie mit dem Uniorchester? Was wird als nächstes gespielt? Gibt es Komponisten, die sie unbedingt aufführen möchten?
Als nächstes planen wir das Jubiläumskonzert für die Universität, das im kommenden Sommersemester stattfindet. Das Programm ist quasi fertig – es wird der Lobgesang von Mendelssohn dabei sein – gemeinsam mit dem Universitätschor. Wir werden uns – mal ein bisschen weiter in die Zukunft geschaut – hoffentlich sehr breit aufgefächert beschäftigen können. Man muss immer sehen, was besetzungstechnisch möglich ist, aber warum soll das nicht bis Mahler oder Schostakowitsch gehen? Und auch nach Schostakowitsch gibt es im zwanzigsten Jahrhundert einiges zu entdecken.
Herr Goerke, vielen Dank für das Gespräch.
Das Semesterkonzert des Symphonieorchesters der Universität Regensburg findet am Sonntag, den 29. Januar ab 18 Uhr im Audimax statt.